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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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legte sie zurück ins Regal und ging mit merkwürdig unkoordinierten Bewegungen zur Tür, wie eine schlecht geführte Marionette. Im Schaufenster starrte sie das Spiegelbild einer dunkelhaarigen, leichenblassen Frau mit einem Achtmonatsbauch unter einem gelben Flatterkleid aus aufgerissenen Augen an. Sie erkannte sich nicht.
    »Jill, warte, ich rufe dir ein Taxi, das dich nach Hause bringt«, rief Lucy hinter ihr her, »du kannst doch jetzt nicht …«
    Aber sie ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts, ging die Straße hinunter, über die Kreuzung. Jemand rief ihren Namen. Autos hupten, Bremsen kreischten, eine raue Männerstimme brüllte etwas. Sie vernahm nur einen Geräuschebrei, der an ihr vorbeirauschte wie ein schäumender Strom, lief weiter, die Treppe zwischen Oyster Box und Beverly Hills Hotel hinunter zum Meer. Blindlings lief sie die Strandpromenade entlang.
    Irgendwann fand sie eine leere Bank unter einer vom ewigen Seewind verkrüppelten Pinie und fiel in sich zusammen, als hätte jemand der Marionette die Fäden durchgeschnitten. Sie fühlte sich bleiern müde. Ihre Lider wurden schwer, Möwenkreischen, das Tosen der Brandung und ferne Kinderschreie mischten sich, überdeckten das Rauschen in ihren Ohren, wurden leiser und leiser, bis ihre Gedanken verschwammen.
    Das Hämmern der Rotoren eines Seenotrettungs-Hubschraubers, der dicht über dem Wasser die Küste entlangflog, schreckte sie auf. Die ersten Häuserschatten berührten den Strand, sie merkte, dass sie ganz offensichtlich geschlafen hatte. Verwirrt vergrub sie ihr Gesicht in den Händen, fühlte in sich diesen unerklärlichen Druck, diese große Angst, konnte sich nicht erklären, woher sie gekommen war. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie über das Meer, bis ihre Augen tränten, aber die Leere in ihrem Kopf wich nicht. Ein Flugzeug glitzerte hoch über ihr in der Sonne. Es flog eine Schleife über dem Wasser und nahm dann Kurs nach Süden. Nach Kapstadt.
    Und da erinnerte sie sich. Der Absturz. Ihre Mutter. Ihr Herz machte einen Sprung, sie schnappte nach Luft, musste krampfhaft gähnen. Sterne tanzten vor ihrem Gesicht, wieder musste sie gähnen. Wie eine Erstickende rang sie nach Sauerstoff. Noch einmal gähnte sie, fühlte die bleierne Schwere in ihren Gliedern, diese unendliche Müdigkeit, versuchte das Gedankenkarussell in ihrem Kopf anzuhalten.
    Der Lichtblitz traf sie unvermittelt. Natürlich. Sie hatte geschlafen, es war ein Traum gewesen, ein böser, tonnenschwerer Albtraum, ganz sicher. Unfähig, noch still zu sitzen, sprang sie auf. Anfänglich noch wackelig auf den Beinen, lief sie dann mit langen, beschwingten Schritten den Strandweg entlang. Nur ein Traum! »Es war nur ein Traum!«, rief sie lachend einer Gruppe bunt gekleideter Urlauber zu und eilte weiter, bis sie Irmas kleines Haus erreicht hatte. Sie öffnete die Pforte, stieg schwerfällig die sechzig Stufen hoch zur Veranda und schloss die Glastür auf.
    Das Fernsehen brüllte. Beatrice hatte wieder vergessen, es auszudrehen. Sie würde etwas massiver mit dem Mädchen werden müssen. Die Fernbedienung lag auf dem Tisch. Sie nahm sie hoch. Der amerikanische Sender CNN lief, und irgendeine unglaublich glamourös aussehende junge Frau las die Nachrichten. Jill wollte eben ausschalten, als die Worte »Breaking News« als Laufband erschienen. Neugierig wartete sie, wollte erfahren, welche Katastrophe sich am anderen Ende der Welt ereignet hatte.
    Ihre Finger wurden plötzlich steif, als das Bild eines Jets, einer Boeing, über den Monitor flimmerte. Der Name am Bug war IMPALA . Ein Archivbild, sagte die Unterschrift. Die Kamera strich über die leere Oberfläche des Meeres. Die Stimme der schönen Ansagerin berichtete dazu, dass nach dem Absturz vor der Natalküste Südafrikas keine Überlebenden gefunden worden waren.
    Nun wusste sie, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Die Fernbedienung fiel ihr aus der Hand, sie wich zurück, aus der Tür hinaus auf die Veranda, stolperte rückwärts, bis sie ins Leere trat und die Steintreppe hinunterstürzte.
    *
    Als sie sich ihrer wieder bewusst wurde, dauerte es eine Weile, bis sie erkannte, wo sie sich befand. Sie lag auf dem Rücken im dichten Gestrüpp in Irmas Garten, das linke Bein angewinkelt, das rechte ausgestreckt. Über ihr blitzte gelegentlich ein wenig Himmel durch das bewegte Blätterdach. Die Sonne war schon hinter dem Haus verschwunden, sein Schatten dämpfte alle Farben,

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