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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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erwiderte sie scharf. Nellys Verhalten ging ihr gründlich auf die Nerven. »Sie haben den Boss zusammengeschlagen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so ist das hier in Afrika.« Sie sagte es laut, mit Nachdruck, denn sie musste sich selbst überzeugen.
    »Es war nicht richtig«, war alles, was die Zulu antwortete, und Jill wusste nicht, ob sie das Verhalten der Einbrecher oder das von Leon Bernitt und Len Pienaar meinte. Für Wochen mied sie das Dorf, mehr aus einer gewissen Scham heraus als aus Angst. Doch eines Tages wurde Nelly krank. Jill kochte einen Topf mit Hühnersuppe, pfiff Dary und machte sich auf den Weg zur Hütte ihrer alten Nanny. Sie band Dary davor an einen Pfosten und trat durch die Brettertür ein.
    Nelly lag in einem Bett, einem richtigen europäischen Bett, viktorianischer Stil, das Carlotta vor Jahren ausrangiert hatte. Es stand mitten im kreisrunden Raum. Ihre Augen waren blutunterlaufen, glänzten fiebrig. »Sakubona, Nelly, ich habe dir eine Suppe gekocht.« Zwischen Nellys Küchenutensilien, die in einer Anrichte mit zerkratzter, hellgrüner Kunststoffbeschichtung standen, suchte sie eine Suppenschüssel und einen Löffel. Ein Tablett fand sie auch. Jill füllte die Schüssel. Sie half der Zulu, sich im Bett aufzusetzen. Die alte Frau trug eine Wolljacke über ihrem Nachthemd. Es hatte geregnet, und die letzte Nacht war kühl gewesen. Jill setzte das Tablett vor Nelly ab. Erwartungsvoll sah sie zu, wie ihre Nanny die Suppe probierte. Nichts außer ihrem Schlürfen und dem Schmatzen ihrer Lippen war zu hören.
    »Du hast das Salz vergessen«, sagte Nelly. Mehr nicht. Aber sie aß die Suppe auf.
    Jill stellte den Topf auf die Anrichte. »Ich komme morgen wieder.« Dann band sie Dary los und ging nach Hause. Die Sache war abgeschlossen. Doch das Gefühl von Druck, einer knisternden Spannung wie der eines nahenden Gewitters, wich nicht.
    Vergeblich bemühte sie sich, wieder eine Stellung beim Parks Board zu bekommen. Die Kassen der Umweltbehörde waren leer, wie die fast aller öffentlicher Institutionen. So arbeitete sie unentgeltlich in einem Schutzprogramm für seltene Vögel. Die Erkenntnisse archivierte sie, um sie später in ihrer Doktorabeit zu verwerten.
    *
    Jede Nacht vor dem Einschlafen kamen wieder die Bilder, zerrissen sie die Schreie, von denen sie glaubte, dass es Christinas waren. Sie gellten ihr im Ohr, wenn sie in den Schlaf hinüberglitt, voller Angst vor ihren Träumen. Doch eines Nachts, Monate später im brütend heißen Januar 1997, trat etwas ein, aus heiterem Himmel, das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
    In der Stunde vor Sonnenaufgang, die beginnende Helligkeit blitzte durch die Vorhangritzen, wachte sie auf und wurde gewahr, dass sie zum ersten Mal seit dem Tod Christinas und ihrer Mutter nicht geträumt hatte. Behutsam, um Martin nicht zu stören, schob sie das Moskitonetz beiseite und stand auf. Durch das abgedunkelte Zimmer tastete sie sich zur Tür, öffnete sie leise und setzte sich auf die Veranda. Mit klopfendem Herzen sah sie der Sonne zu, die sich mit einem Feuerwerk von Farben über den Horizont schob und in den überirdisch leuchtenden Himmel stieg, und endlich wurde es ihr klar.
    Es war sie selbst gewesen, die geschrien hatte, nicht Christina. Sie hatte ihr nicht helfen können, weil der Nerv, der ihre Bewegungen von der Taille abwärts steuerte, verletzt gewesen war und sie sich nicht rühren konnte. Da wusste sie, dass nicht nur ihr Bein verheilt war. Sie verstand, dass sie keine Schuld traf, dass sie Opfer war, wie Christina auch. Nun erlaubte sie sich endlich, um ihr Baby zu weinen. Leise und nur für sich, aber mit jeder Träne wurde ihr leichter. Die Gewissheit, dass Christina immer bei ihr sein würde, solange sie lebte, und dass sie auch Mama und Tommy nicht wirklich verloren hatte, gab ihr eine innere Ruhe, die sie an die friedliche Stille eines Waldsees in den Bayerischen Bergen erinnerte. Sie spürte ihre Gegenwart. Es machte sie nicht mehr traurig.
    Sie stand auf. Jetzt würde sie wieder hineingehen, um ihm zu sagen: Martin, Liebling, lass uns wieder ein Baby haben! Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, überschäumte vor Glück, schlief er immer noch. Sie hob das Moskitonetz und starrte irritiert auf ihn hinunter. Wie konnte er jetzt schlafen? Heute war der Beginn ihres neuen Lebens, und er schlief. Sie hob eine Hand, um ihn wachzurütteln, ließ sie dann aber wieder sinken. Er war sehr spät aus der Transkei von der Baustelle des

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