Ein Land, das Himmel heißt
streifte ihre Leinenschuhe ebenfalls ab. Beide hoben einen Fuß, leuchteten mit ihren Taschenlampen auf eine Stelle unter dem kleinen Zeh.
Befremdet Jill sah hin, entdeckte verwirrt eine winzige weiße Narbe, im hellen Licht des Mondes deutlich zu erkennen, eine Narbe, wie sie verursacht wird, wenn ein Glied chirurgisch entfernt wird. Wie bei Tommy. Wie bei ihr. Sie sah die beiden Zulus an. »Was soll das? Wie kommt ihr zu dieser Narbe?« Als hätten die beiden sie gestohlen.
»Wir haben sie von Geburt an, wie du und Tommy.« Thandi lächelte ihr berühmtes Lächeln. »Kapierst du nicht? Wir sind deine Geschwister, Halbgeschwister. Dein Vater ist auch unser Vater.«
Der Himmel stürzte nicht ein, der Boden tat sich nicht auf, es passierte eigentlich gar nichts, außer dass unter diesem Schlag ihr Herz zersprang. Sie rang nach Luft. Es musste ein Traum sein, das alles war so irrwitzig, so etwas konnte man nur träumen. Sie versuchte sich zu schütteln, sich wachzumachen, aber immer noch standen Thandi und Popi da, barfuß, einen Fuß ausgestreckt, einen erwartungsvollen Ausdruck in ihren graugrünen Augen.
»Thuleleni ist unsere Mutter«, erläuterte Thandi, offenbar um ihr auf die Sprünge zu helfen, »dein Vater hat sie vergewaltigt. Wir sind hier, um dir zu sagen, dass wir unseren Teil des Erbes von Inqaba beanspruchen.« Sie ließ ihren Leinenschuh von einem Finger baumeln. Der Namenszug innen war italienisch.
Für Sekunden schien die Welt aufzuhören, sich zu drehen. Weder das Seufzen vom Wind noch die Stimmen von Tier oder Mensch, nicht einmal das Rascheln von Blättern konnte Jill hören. Es herrschte tiefe, absolute Stille. Thuleleni. Der Name versetzte sie um zwei Jahre zurück an den Abend, als ihr Leben noch heil gewesen war, als sie zum letzten Mal mit ihrer Mutter, ihrem Vater und Martin auf der Terrasse beim Essen saß. Mit Christina im Bauch. Es war Abend gewesen wie jetzt, und bis auf die Lichtpfützen der beiden Lampen auf dem Tisch war es dunkel.
Sie sah die schwarze Frau vor sich, das braune Kleid hing lose um ihre zierliche Figur, ihre Wangen waren eingefallen, die Augen groß und von fiebrigem Glanz. »Wer bist du?«, hörte sie sich fragen. »Du hast hier nichts zu suchen. Wie heißt du?«
»Thuleleni«, hatte die Frau geantwortet, ihre Stimme so zart wie ein Windhauch, und dabei ihre Augen auf Phillip Court gerichtet.
Er, ihr Vater, war aufgestanden, hatte ein paar Worte gemurmelt und war dieser Frau in die Dunkelheit gefolgt. Als er endlich wieder an den Tisch zurückkam, war er verändert gewesen. Krachend hatte er sich in seinen Stuhl geworfen, war nervös gewesen, fahrig, sogar ein Weinglas hatte er zerbrochen und sich daran geschnitten.
»Wer war das?«, hatte sie ihren Vater gefragt. »Kanntest du sie? Ich glaube, ich habe sie schon mal gesehen.«
»Ach, niemand«, hatte er geantwortet, seine wegwerfende Handbewegung unterstrich, dass er dieser Frau keine Bedeutung zumaß.
Sechs Tage später war ihre Mutter in ein Flugzeug gestiegen und abgestürzt. Sie, die solche Flugangst hatte, dass sie lieber zu Fuß nach Kapstadt gelaufen wäre. Sie, die nie einen Schritt ohne ihren Mann tat. Sie, die so glücklich gewesen war in ihrer Ehe. Mit aller Kraft wehrte Jill sich gegen die Erinnerung an die folgenden Tage, an den Treppensturz, an ihr Aufwachen im Krankenhaus. An Christina. Sie zwang sich, an ihre Mutter zu denken. Und an ihren Vater.
Warum, das hatte sie ihn immer und immer wieder gefragt und keine Antwort bekommen. Hatte sie jetzt eine von Thandi und Popi erhalten? Sollte sie glauben, dass ihre Mutter herausgefunden hatte, dass ihr Mann einer schwarzen Farmarbeiterin Gewalt angetan und dabei Zwillinge gezeugt hatte? War ihre Mutter daraufhin in ein Flugzeug gestiegen, um ihn zu verlassen, und in den Tod geflogen?
Jede Faser ihres Seins wehrte sich gegen die Vorstellung, dass ihr Vater, ihr Daddy, eine andere Frau gezwungen hatte, sich auszuziehen, sie vielleicht auf den Boden geworfen, ihr die Knie auseinandergedrückt und sie vergewaltigt hatte. Nein, nein, nicht Daddy, davon war sie überzeugt.
»Verdammt«, hatte ihr Vater gesagt, und schon damals war sie sich sicher gewesen, dass er nicht den Schnitt in der Hand meinte, den er sich an dem zerbrochenen Weinglas zugezogen hatte. Und dann war er ans andere Ende der Welt gezogen und hatte sich bei seinem einzigen Kind nicht mehr gemeldet. Warum, Daddy, bitte, sag mir, warum!
»Das glaube ich nicht« war alles, was sie jetzt
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