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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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diese Frage als Scherz meinte.
    Sie aber nickte. »Oh ja. Das ist Mamas Geschichtenzimmer, meine Kinderwelt. Warte, ich suche etwas …« Ein Buch nach dem anderen zog sie hervor, wischte den Staub ab und trug es zur Lampe. Versunken wendete sie die knisternden Seiten. »Jedes war ein Abenteuer für mich, ich träumte nächtelang von wilden Fabelwesen und aufregenden Expeditionen, manchmal konnte ich nicht schlafen, weil Hexen und Zauberer und große, feuerspeiende Drachen mich jagten … Ah, hier ist es.« Aus einem dicken Band fischte sie ein Blatt Papier hervor und hielt es ihm hin. Es war vergilbtes, stockfleckiges Skizzenpapier, an der oberen Kante ausgefranst und gewellt. Ein Mann war darauf dargestellt, nicht so sehr sein naturgetreues Porträt als der Eindruck seiner Ausstrahlung. Er hielt ein Gewehr in der rechten Hand, die linke hatte er in die Hüfte gestützt. Mut, Stärke, Entschlossenheit drückte seine Haltung aus. »Er war mein Urururgroßvater Johann, er hat unser Haus gebaut«, erklärte sie, »seine Frau, meine Urururgroßmutter Catherine hat ihn gezeichnet. Von ihm habe ich besonders viel geträumt. Er war so groß und stark und so romantisch.«
    Martin stand hinter ihr, seine feste, warme Hand auf ihrem Nacken. »Romantisch? Da hast du auch etwas von ihm geerbt.«
    Warm und fordernd spürte sie seine Lippen in ihrem Nacken, seine Hände auf ihren nackten Schultern. Für einen Moment ließ sie sich ablenken, machte einen Laut tief in der Kehle, sanft, wie ein schnurrendes Kätzchen. »Eigentlich wollte ich meinem Denys Finch-Hatton jetzt eine Geschichte erzählen«, flüsterte sie und versuchte seine Hände einzufangen, diesen Lippen zu entkommen, die überall waren, sie berührten, kribbelten, süchtig machten nach mehr. Johanns Porträt glitt in die Dunkelheit, zu Boden. Ein paar Geckos lugten mit neugierig funkelnden Knopfaugen zu ihnen herunter, die Mondstrahlen wanderten langsam durchs Zimmer, berührten diesen Gegenstand, jenes Bild, ließen es aufleuchten, fielen endlich auch auf Johanns Bild.
    Martin löste sich von ihr und hob es auf. »Ist das eine Elefantenbüchse?«, er zeigte auf das Gewehr, das Johann Steinach in den Händen hielt. »Damit hat er bestimmt viele Zulus getötet!«
    »Nein, o nein, im Gegenteil«, antwortete sie, zog ihn neben sich auf das weizengelb gestreifte Chintzsofa und rückte die Lampe heran. Sie schob das über die Rückenlehne geworfene, mottenzerfressene Leopardenfell auf den Boden, legte den Kopf an Martins Schulter und begann in ihrer dunklen, etwas rauen Stimme zu sprechen.
    »Meine Mutter erzählte mir diese Geschichte, als ich ungefähr acht Jahre alt war. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, draußen herrschten kochende 40 Grad bei hoher Luftfeuchtigkeit, und ich war ins kühle Haus, in dieses Zimmer geflüchtet. Ich fand diese Zeichnung und zeigte sie Mama. Dann erfuhr ich, wer mein Urahn war und wie es kam, dass er hier sein Haus baute.« Sie atmete tief ein. »Er stammte aus der entlegensten Region in Bayern, dem Bayerischen Wald. Dort wo der Bayerwald an den Böhmerwald grenzt, am Fuß des Rachel war er geboren. Der Hof seiner Eltern lag auf einer großen Waldlichtung am Ufer eines Mühlenbachs, der ihr Sägewerk antrieb. Der Schnee fiel dort bis in den Mai hinein, Anfang September kamen die ersten Nachtfröste. Der Vater von Johann hatte eine Passion, ungewöhnlich für einen, der tags so hart arbeitete. Er las, nur so, zu seinem Vergnügen, und erzählte Johann dann vor dem Schlafengehen von den fremden Welten, die er abends besuchte, wenn er sich bei Kerzenschein in sein Buch vertiefte. Da hörte Johann vom Meer, einem Wasser, das so groß war, dass man kein Ende sah. Er kannte nur den Weiher von Kogelsreuth, dem kleinen Dorf, das eine halbe Stunde von ihnen entfernt lag, und die Ohe, in der er oft Forellen fing. Als er siebzehn war und in der Dorfschule nichts mehr lernen konnte, was er nicht schon wusste, beschloss er, sich das Meer anzusehen. Heimlich verließ er den Hof seiner Eltern und machte sich auf den Weg.«
    Ihre Stimme, dunkel, singend, wie die vibrierenden Töne eines Cellos, füllte den Raum. Martin lauschte mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Polster gelehnt, die Beine von sich gestreckt.
    »Ich will jetzt nicht erzählen, was er alles auf seiner Suche erlebte, nur den Moment beschreiben, als er viele Monate später am Rand des Atlantiks stand. Aus seinen Büchern hatte Johann gelernt, dass im Westen Amerika lag, und da

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