Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
Vom Netzwerk:
ihr … ihr …!«
    Martin hielt ihr den Mund zu, schleifte sie ins Esszimmer und stieß die Tür mit einem Fußtritt zu. Sie krachte ins Schloss. »Bist du wahnsinnig, Liebling«, zischte er, »du weißt nicht, was du sagst. Das sind die vom Büro für Staatssicherheit, mit denen legt man sich nicht an. Dein Bruder ist tot, damit holst du ihn nicht wieder. Finde dich damit ab, je schneller, desto besser, und halt dich da raus.« Er wollte sie auf einen Stuhl drücken.
    Wütend befreite sie sich. »Begreifst du nicht? Mein Bruder«, sie betonte jedes Wort aufs Heftigste, »mein Bruder Tommy würde nie einen Freund verraten! Ich lasse nicht zu, dass sie seinen Namen in den Dreck ziehen. Außerdem können die mir nichts tun, ich bin völlig harmlos, ich kenne keinen vom ANC .« Völlig außer sich, rannte sie wie ein gefangenes Tier auf und ab.
    »Doch, deinen Bruder. Du hast offenbar keine Ahnung, was die sich alles ausdenken können. Du kannst nicht so naiv sein. Bist du wirklich politisch so unbeleckt, oder tust du nur so?«
    So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Verletzt durch seinen aggressiven Ton, fuhr sie hoch. »Was soll das heißen? Ich lass mich doch von denen nicht einschüchtern. Schließlich gibt es hier ein Gesetz und Gerichte, wo man sein Recht bekommt. Ich will wissen, was wirklich passiert ist!«
    Er lachte auf, ein hartes Geräusch. »Du bist tatsächlich unglaublich naiv … Komm schon, du hast doch die letzten Jahre nicht auf dem Mond verbracht. Deine Manie, keine Zeitungen zu lesen, keine Nachrichten im Fernsehen anzusehen, ist krank. Es wird Zeit, dass du dich mal wieder um die Dinge kümmerst, die da draußen passieren!« Seine Handbewegung umschloss alles, was hinter den Hügeln lag. »Hör auf, Vogel Strauß zu spielen!«
    Sein beißender Spott traf sie in ihr Innerstes. Schockiert suchte sie nach Worten. »Was meinst du damit …?«
    »Wir haben Bürgerkrieg, Menschen bringen sich gegenseitig um, weil sie politisch unterschiedliche Ansichten haben. Hier in Natal schlachten sich Anhänger des ANC und die von Inkhata ab, brennen dabei ganze Dörfer nieder. Selbst du auf deiner Insel hier musst doch schon vom Halsband gehört haben … den Bombenanschlägen …«
    Ihr Magen zog sich bei diesen Worten zusammen, Säure stieg ihre Speiseröhre hoch, sie musste würgen. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu. »Hör auf! Auf der Stelle! Ich will nichts davon hören … es betrifft mich nicht …«
    Er packte ihre Hände, bog sie zurück, so dass sie ihm zuhören musste. »Es betrifft dich, jemand hat deinen Bruder mit einer Paketbombe in die Luft gejagt!«, schrie er sie an.
    Wie einen Nagel trieb er die Wahrheit mit diesem Hammerschlag in ihren Kopf. Sie krümmte sich zusammen, Übelkeit lief in Wellen durch ihren Körper, sie hechelte, geriet an den Rand einer Ohnmacht. Im letzten Moment steckte sie den Kopf zwischen die Knie, zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Das war brutal«, flüsterte sie und legte schützend die Hand auf ihr Baby.
    »Die Wahrheit ist manchmal brutal. Es wird Zeit, dass du endlich aufwachst und dich der Wirklichkeit stellst! Du bringst dich selbst in Gefahr.« Er versuchte, sie an sich zu ziehen, aber sie wehrte sich entschlossen. »Versteh doch, Liebling, ich sag das doch nur, um dich zu schützen. Dieser Parker und der andere gehören in eine gefährliche Welt, du darfst ihre Grenzen nicht überschreiten. Sie würden dich vernichten!«
    Plötzlich hatte sie einen Geschmack von Crème Caramel im Mund, der sofort wieder einen Brechreiz auslöste. Sie schluckte, richtete sich langsam auf. Das Beben, das heute an ihren Fundamenten gerüttelt hatte, hatte eine Erinnerung freigelegt. Flüchtig streifte sie ihn mit einem Blick und wandte sich dann ab. Es würde leichter sein, gegen die Wand zu reden, denn was sie ihm erzählen wollte, hatte sie damals so tief in sich vergraben, dass sie Bilder und Worte erst suchen musste. Die Wand war weiß, ohne Muster, an dem sich ihre Augen festhalten konnten. Sie war die Leinwand, auf die sie jetzt ihre Erinnerungen wie einen Film projizierte.
    »Du irrst dich«, sagte sie mit einer Stimme, die sehr klar war und bar jeder Gefühlsregung, »ich kenne die Wirklichkeit ganz genau, ich habe sie mit eigenen Augen gesehen, ich habe sie gerochen. Es ist Anfang letzten Jahres gewesen«, begann sie, »ich war so glücklich gewesen, so glücklich, so jung und so verdammt naiv, dass ich nur mich selbst wahrnahm, mich unverwundbar

Weitere Kostenlose Bücher