Ein Land, das Himmel heißt
Ihre Hände krampften sich ums Steuerrad, sie war völlig gelähmt, hatte jede Verbindung zu ihrem Körper verloren.
Ein Mädchen stieß einen grellen Trillerlaut aus, ihre Züge von teuflischem Vergnügen verzerrt. Sie trat gegen das Opfer, und ein verkohlter Finger brach ab. Die Menge heulte auf, kreischte, drängte sich um den Jungen. Sie lachten, sie warfen Steine auf ihn, und in der ersten Reihe tanzten die Schulkinder.
Die älteren wandten sich ihr zu. Der junge Mann bückte sich, und wieder flog ein Stein, knallte auf die Motorhaube, und da erwachte Jill aus ihrer Lähmung. Ihre Muskeln gehorchten den Befehlen ihres Gehirns, und sie trat aufs Gas. Die Räder drehten durch, griffen, und mit zunehmender Geschwindigkeit schleuderte sie auf die grölenden Schwarzen zu, die ihr erst in letzter Sekunde auswichen.
»Ich hatte es schon fast geschafft«, berichtete sie Martin jetzt in dieser ausdruckslosen, trockenen Stimme, »war praktisch schon vorbei, als ich drei Weiße sah. Sie trugen Filmkameras auf ihren Schultern und filmten, während der Junge vor ihren Augen sehr langsam starb. Ich hab mich im hohen Bogen auf den Beifahrersitz übergeben und bin laut schreiend davongerast, hab meinen Wagen über die Schlaglöcher geprügelt, bis ich die geteerte Hauptstraße erreichte. Hier reißt meine Erinnerung ab und setzt erst am nächsten Morgen wieder ein. Über dieses Erlebnis habe ich nie mit jemandem geredet. Es war mir nicht möglich, es in Worte zu kleiden. Ich hatte es verdrängt.«
Sie drehte sich wieder zu ihm, so dass sie sein Gesicht beobachten konnte. Seine Brauen waren über der Nasenwurzel zusammengezogen, die Augen auf den Boden gerichtet. »Deswegen sehe ich mir weder Nachrichten im Fernsehen an, noch lese ich Zeitung, und im Radio passe ich nur den Wetterbericht ab. Seitdem kann ich Crème Caramel nicht mehr essen, schon beim Geruch muss ich brechen.« Sie fing seinen Blick auf und entdeckte zu ihrer ungeheuren Erleichterung, dass er verstand. »Deswegen habe ich mich der Welt entzogen, sie hat sich da draußen ohne mich gedreht. Kriege fanden statt, Katastrophen passierten, Wunder, wissenschaftliche Sensationen. Ich ließ nichts an mich herankommen.«
Martin streckte die Arme nach ihr aus, aber ehe er eine Antwort finden konnte, öffnete Phillip Court die Tür. Seine hellen Augen glänzten fiebrig, rote Flecken brannte auf seinen Wangen, und die Linien, die seinen Mund wie eine Klammer umschlossen, waren wie weiße Messerschnitte. »Hilf mir mit Mama, Jill, ich …«, sie hörte ein winziges Beben in seiner Stimme, »… ich komm nicht zu ihr durch …«
Auch das traf sie wie ein Schock. Dieser große, muskulös gebaute Mann, ihr Vater, der einmal einen wütenden Stier, der sein Auto als Nebenbuhler betrachtete und mit den Hörnern attackierte, am Schwanz gepackt und den abgerissen hatte, der ruhig und überlegt einer Horde betrunkener Farmarbeiter entgegentrat und sie beruhigte, dieser Mann stand jetzt völlig hilflos vor ihr. Sie folgte ihm, erwartete, dass ihre Mutter in Tränen aufgelöst wäre, ihr Leid herausschreien würde, aber Carlotta Court war ganz ruhig. Fahlweiß im Gesicht, mit bläulichen Schatten unter den Augen und wirren Haaren, aber sie war ruhig, und das jagte ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Ihre Mutter tat so, als wäre nichts geschehen. Sie setzte sich an den Esstisch, breitete sorgfältig die Serviette über ihren feuerrroten Kaftan, legte sich ein paar Scheiben kaltes Fleisch und eine Portion Salat auf den Teller. »Lasst uns schon anfangen«, sagte sie, »Tommy wird sicher später dazukommen.« Dann aß sie. Ganz allein. Ohne jemanden anzusehen.
»Ich rufe Marius Konning an«, flüsterte Jill, selbst hilflos, »er wird ihr etwas zur Beruhigung und zum Schlafen geben.« In seinem anstrengenden Beruf, den er als Berufung verstand, hatte Marius gelernt zuzuhören. Er tat es auf so mitfühlende Art, dass seine Patienten, auch die, die wesentlich älter als er waren, ihre intimsten Probleme mit ihm besprachen. Doch Jill fühlte deutlich, dass ein Gespräch allein hier nicht helfen würde.
Vorsichtig legte sie den Arm um ihre Mutter und brachte sie gemeinsam mit Martin und ihrem Vater ins Schlafzimmer. Sie zog ihr den feuerroten Kaftan aus und half ihr ins Bett. Carlotta Court ließ es mit sich geschehen, als wäre sie eine Stoffpuppe. Jill saß noch lange Zeit allein auf einem Stuhl neben ihrer Mutter, versuchte deren eiskalte Finger zwischen ihren Händen zu
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