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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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oberhalb des Flusses verfolgt, in den sie vorher noch nie eingedrungen war. Plötzlich stand Lena vor ihr wie aus dem Boden gewachsen. In Felle, bunte Lumpen, Reihen von Perlgehängen gekleidet, der zahnlose Mund eine schwarze Höhle, stand sie vor ihr wie eine Erscheinung aus einem bösen Märchen und versperrte ihr den Weg. Ein Geruch nach Ziegenstall, ranzigem Fett und Rauch stieg aus ihren Kleidern auf. »Ich muss meine Kräuter dort suchen, wo kein anderer Mensch seinen Schatten auf sie geworfen hat«, zischelte sie, züngelnd wie eine Schlange, »die Ahnen verlangen es. Niemand außer mir darf diesen Wald betreten.« Sie rollte ihre Augäpfel nach oben, zeigte Jill nur noch das Weiße.
    Sie war davongerannt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her, Lenas böses Kichern, ihr Geruch, die weißen Augen verfolgten sie noch in ihre Träume. Seitdem hatte sie diesen Teil der Farm gemieden.
    Sie blickte sich um, aber erkannte nichts wieder. Zu Fuß würde sie in ihrem Zustand vermutlich Stunden brauchen, um nach Hause zu laufen, abgesehen davon, dass ihre leichten Schuhe wirklich nicht für einen solchen Marsch geeignet waren. Insgeheim hätte sie sich dafür ohrfeigen können, das Funkgerät und ihre festen Schuhe nicht mitgenommen zu haben. Schnuppernd sog sie die Luft ein, die weich über ihre Nasenschleimhäute strich. War doch Wasser in der Nähe?
    Es blieben ihr zwar noch einige Stunden Tageslicht bis zum Einbruch der Dunkelheit, aber sie musste hier so schnell wie möglich weg. Nicht nur wegen des Gewitters, das in der Ferne grollte. Sie befand sich zwar auf dem eingezäunten Land ihrer Familie, doch dieser Zaun war ungefähr vierzehn Kilometer lang, diente nur zur Grenzmarkierung, und Inqaba lag in einem der ärmsten Landstriche Südafrikas. Es waren nicht nur Tiere, die ihr hier gefährlich werden konnten, dessen war sie sich durchaus bewusst.
    Eilig fischte sie ihre Tasche aus dem Auto, nahm ihre Pistole aus dem Handschuhfach und ging den Weg hinauf zur nächsten Anhöhe, in der Hoffnung, einen Rundblick zu bekommen. Als sie auf der felsigen Plattform des Hügels, der aussah wie ein Ei, das man geköpft hatte, eine über und über mit Mimosenblüten bedeckte Süßdornakazie entdeckte und darunter einen geflochtenen, ausgeblichenen Korbstuhl, stellte sie erleichtert fest, dass sie jetzt genau wusste, wo sie sich befand. Es war Mamas Lieblingsplatz. Sie war näher an zu Hause, als sie angenommen hatte.
    Sie setzte sich in den Korbstuhl und legte den Kopf an die Rückenlehne. Ein hauchzarter Duft nach Maiglöckchen stieg ihr aus dem Geflecht in die Nase. Sie sah auf die Uhr. Es war halb drei. Der Platz war etwa zwei Stunden Fußmarsch vom Haus entfernt, und die Möglichkeit, dass sich ein menschliches Wesen hierher verirren würde, eine sehr wahrscheinliche. Sie beschloss eine halbe Stunde zu warten. War bis dahin niemand hier aufgekreuzt, bliebe ihr gerade noch genug Zeit, um nach Hause zu laufen.
    Ein ohrenbetäubendes Krachen erschütterte den Boden, sie fuhr zusammen, und Christina brach in wildes Getrampel aus. Für Sekunden glaubte sie an eine Explosion, glaubte, dass ganz in der Nähe eine Bombe hochgegangen wäre. Erst als sich das Kind in ihrem Bauch beruhigt hatte, ihr eigener, rasender Herzschlag auf die normale Frequenz gefallen war, konnte sie sich selbst überzeugen, dass es wirklich nur das aufziehende Gewitter war, und keine Bombe. Doch das Wort allein spülte lang verdrängte Bilder in ihr hoch, und sie fand sich wieder an jenem verhängnisvollen Abend im November vor sechs Jahren, dem Tag, an dem sich Mama für immer veränderte, nach dem nichts mehr so war wie vorher und dessen Erinnerung sie bis heute gewaltsam blockieren musste, weil sie fürchtete den Schmerz nicht ertragen zu können.
    Unvermittelt erschien ein Klippspringer auf dem flachen Felsen keine fünfzehn Meter von ihr entfernt. Sein graubraunes Fell machte ihn zu einem Teil des Steins. Reglos wie eine Statue, starrte er gebannt zu ihr hinüber, schien auf seinen Hufspitzen zu schweben, bereit, bei der geringsten Warnung zu fliehen. Aber sie beachtete ihn nicht, suchte in Gedanken den Zeitpunkt, den letzten Moment ihrer Ahnungslosigkeit, kurz bevor es damals passierte. Wie Glassplitter in einem Kaleidoskop flirrten die Bilder des 4. November 1989 vor ihrem inneren Auge durcheinander. Die grüne Schlange, Nellys düstere Miene, das Gesicht ihrer Mutter, als die Polizisten ihr sagten, dass Tommy tot war. Die Verzweiflung ihres

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