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Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Titel: Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kofi Annan
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finden. Alle teilten das Interesse daran, im Irak gedeihliche Nachkriegsverhältnisse zu schaffen, und niemand wollte, dass die Vereinten Nationen langfristig Schaden nahmen oder dass eine tiefe geopolitische Spaltung entstand.
    Im UN -Apparat konzentrierten wir uns bald auf die Frage, wie wir dazu beitragen könnten, dem irakischen Volk, das wie viele andere Opfer von Krieg und Tyrannei unserer Hilfe bedurfte, eine bessere Zukunft zu sichern. Das war keine leichte Aufgabe. Viele UN -Mitgliedsstaaten – und viele UN -Mitarbeiter – waren der Ansicht, die Vereinten Nationen dürften in keiner Weise den Eindruck erwecken, als würden sie die Invasion gutheißen oder mithelfen, eine Besetzung zu organisieren, deren Grundlage ein nicht sanktionierter Krieg war.
    Darin lag das Paradox der vielgerühmten »vitalen Rolle«, die Blair und Bush, wie sie beteuerten, den Vereinten Nationen zugedacht hatten. Tatsächlich strebten wir keine »vitale Rolle« an, noch sollten wir sie erhalten. Wie mir in den Tagen nach der Invasion in intensiven Überlegungen klar wurde, besaßen wir eine Verpflichtung gegenüber dem irakischen Volk, die über das Gefühl, betrogen worden zu sein, und über die Missbilligung, die wir empfinden mochten, hinausging. Die Iraker brauchten unsere Hilfe, und als Vereinte Nationen war es unsere Pflicht, diese Herausforderung anzunehmen. Für die Vereinten Nationen war es weder realistisch noch wünschenswert, vor einer aktiven Rolle in einer derart komplexen – und bedeutsamen – Arena nach Ende des Konflikts zurückzuschrecken.
    Ich übertrug Sergio Vieira de Mello die Leitung unserer Mission, da ich seiner reichen praktischen Erfahrung – vom Balkan bis Osttimor – vertraute, die es ihm ermöglichen würde, den größtmöglichen Beitrag der UNO zur Stabilität des Landes zu leisten und dabei unsere Unabhängigkeit von den Besatzungsmächten zu bewahren. Er traf zu spät in Bagdad ein, um verhindern zu können, dass der dortige US -Vertreter, Jerry Bremer, zwei katastrophale Verordnungen über die Auflösung der irakischen Armee und die Ent-Baathifizierung des irakischen Staatsapparats erließ. Deshalb konzentrierte er sich darauf, einen möglichst breiten Konsens über die künftige Regierungsform des Landes zustande zu bringen, was ihm trotz erheblicher Einschränkungen seiner Machtbefugnisse, seines Handlungsspielraums und seines Einflusses auf die Schlüsselentscheidungen der Koalition auch gelang. Indem er allen Seiten des zersplitterten irakischen Mosaiks aufmerksam und geduldig zuhörte – und das Vertrauen des religiösen Führers der Schiiten, Ajatollah Sistani, gewann –, trug er zur Bildung des Regierungsrats bei, der ersten genuin irakischen Form einer Post-Saddam-Regierung.
    Der Bombenanschlag am 19. August, bei dem Sergio und 21 seiner Kollegen ums Leben kamen, war die böswillige Antwort terroristischer Gruppen, die jeden Versuch durchkreuzen wollten, im Irak eine friedliche Nachkriegsordnung aufzubauen – auch wenn er von den Vereinten Nationen unternommen wurde. Einen Monat nach Sergios Tod wurde erneut ein Selbstmordanschlag auf das UN -Hauptquartier in Bagdad verübt, und offensichtlich musste man mit weiteren Anschlägen rechnen. Nach dem ersten vom 19. August hatte ich eine Untersuchung der Sicherheitsmaßnahmen des UN -Hauptquartiers angeordnet und den früheren finnischen Präsidenten Marti Ahtisaari, der schon mehrere UN -Missionen erfüllt hatte, gebeten, sie zu leiten. Ich wusste, dass er die Beweise von einem unabhängigen Standpunkt aus genauestens unter die Lupe nehmen würde. Als er mir das Ergebnis präsentierte, war er außer sich. Elementare Sicherheitsmaßregeln waren versäumt worden. Hinzu kam das grundlegende Dilemma unserer Präsenz im Irak: Wenn wir uns mit unserer Arbeit vom Besatzungsregime absetzen wollten, durften wir unser Hauptquartier nicht in dem von der Koalition gesicherten Gebiet der sogenannten »Grünen Zone« einrichten, wo wir auf augenfällige Weise vom irakischen Volk getrennt wären. Andererseits setzten wir uns dadurch, dass wir uns außerhalb der sicheren Zone im Canal Hotel einmieteten, einer größeren Gefahr aus, von der durch die Invasion ausgelösten Gewalt- und Terrorwelle erfasst zu werden. Im Chaos des Nachkriegsirak gab es für dieses Dilemma nur eine Lösung: unseren Rückzug aus dem Land. Ich konnte es unseren Mitarbeitern einfach nicht mehr zumuten, eine ständige Mission vor Ort zu unterhalten. Als wir im Jahr 2004 mit

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