Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Titel: Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kofi Annan
Vom Netzwerk:
Nacht setzte ich ihm die Notwendigkeit auseinander, die Gewalttätigkeiten zu beenden, wenn möglich durch indonesische Truppen oder, wenn diese scheiterten, durch ausländische Einheiten. Tagsüber drängte ich den Sicherheitsrat und Länder, die möglicherweise Truppen bereitstellen würden, dazu, eine glaubwürdige Interventionstruppe mit genügend Kampfkraft für den Einsatz zu bilden. Zudem müsste sie eine beträchtliche asiatische Komponente besitzen, damit es nicht aussah, als würde eine westliche Invasion Indonesiens stattfinden.
    Wie bei anderen Krisen, vom Kosovo bis zum Nahen Osten, wurde ich rasch zu einem Knotenpunkt der diplomatischen Kommunikation zwischen den Konfliktparteien, und wie es schien, war ich der Einzige, zu dem alle genügend Vertrauen für ein offenes Gespräch hatten. Aufgrund dessen gewann ich oftmals ein besseres und wesentlich aktuelleres Bild der Lage als die Beteiligten selbst, da sie mir ihre Interessen, ihr Wissen und manchmal sogar einige der Informationen ihrer Geheimdienste anvertrauten. Auch wenn ihre Darstellung häufig einseitig und verzerrt und darauf ausgerichtet war, mich von ihrem Standpunkt zu überzeugen, war sie hilfreich, da sie mich in die Lage versetzte, einsichtigere und wirkungsvollere Vereinbarungen zu vermitteln, als ich es sonst gekonnt hätte. Osttimor war in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
    Australien die Führung einer Interventionstruppe anzuvertrauen, wäre aufgrund seiner Stellung im pazifischen Raum von Spannungen belastet gewesen. Es besaß zwar kampffähige, kompetente Streitkräfte, welche die Operation effektiv und glaubwürdig hätten führen können, war aber kein asiatisches Land und wurde von seinen Nachbarn insofern nicht als vollwertig betrachtet. So musste ich andere Regionalmächte, wie Thailand, Malaysia und Singapur, zur Teilnahme bewegen. Diese wiederum würden ohne eine ausdrückliche Einladung von Seiten Indonesiens über eine Beteiligung nicht einmal nachdenken – oder auch nur bekannt werden lassen wollen, dass sie mit mir darüber sprachen. Alle Wege führten zurück zu Habibie, einem anständigen, verantwortungsvollen Staatsmann, der allerdings unter starkem Druck stand. Wenn ich ihn überzeugen konnte, würde ich auch die anderen Puzzleteile zusammenbekommen.
    Aus Dili trafen jeden Tag neue Schreckensmeldungen über Massaker, Mordanschläge und Brandstiftungen von timoresischen Schlägertrupps und Milizen ein, die offenbar mit der Unterstützung der vor Ort stationierten indonesischen Truppen rechnen konnten. Doch während ich von unseren eigenen Leuten und ausländischen Repräsentanten immer beunruhigendere Berichte erhielt, wurde Habibie von seinen Militär- und Sicherheitskräften ein völlig anderes Bild vermittelt. So beharrte er in einem Telefongespräch hartnäckig darauf, dass keine gegen Timorer gerichteten Aktionen stattfänden. Wo es zu Plünderungen komme, sagte er, handle es sich um Häuser von Indonesiern, die aus Wut über das Resultat der Volksabstimmung ihre Häuser in Brand gesteckt hätten. Meine Berichte seien falsch.
    Um diese kontraproduktive Gesprächsmühle zu durchbrechen, begann ich Habibie davor zu warnen, dass man ihn persönlich verantwortlich machen würde, wenn die Morde weitergingen und er sich als unfähig erweise, die Menschen zu schützen. In stundenlangen Telefongesprächen erklärte ich ihm, dass die Entsendung einer Interventionstruppe keine Invasion oder Zwangsmaßnahme sei. Er solle die Hilfe von außen annehmen, denn seine Armee sei aus eigener Kraft augenscheinlich nicht in der Lage, die Ordnung wiederherzustellen, auch wenn sie es wolle.
    Auf persönlicher Ebene hatte Habibie mein Mitgefühl. Ich spürte, dass er das Richtige tun wollte, aber von mächtigen Hardlinern im Militär enorm unter Druck gesetzt wurde. Obwohl ich den Verdacht hatte, dass er bei unseren Telefongesprächen nie allein war, musste ich ihm erklären, dass seine Militärs ihm nicht die Wahrheit sagten. Aber ich musste vorsichtig sein und durfte ihn nicht zu sehr bedrängen. Es bestand stets die Gefahr, dass der Dialog abgebrochen wurde und die Chance auf einen Durchbruch vertan wäre. Jedes Mal, wenn diese Gefahr drohte, sagte ich mir, dass es besser sei, am nächsten Tag weiterzumachen, wie wenig ich auch vorangekommen war. Man ist unter solchen Umständen, wenn im Konfliktgebiet Gräuel begangen werden, im Dialog mit den Verantwortlichen versucht, seine moralische Entrüstung zu äußern. Doch dieser Versuchung

Weitere Kostenlose Bücher