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Ein leises boeses Fluestern

Ein leises boeses Fluestern

Titel: Ein leises boeses Fluestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodus Carroll
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seinen Jeans ab. »Woher weißt du, daß sie auf Italienisch geschrieben sind, wenn du sie nicht lesen kannst?«
    »Ich hab dir doch erzählt, ihre Mutter war Italienerin. Welche andere Sprache könnte es denn sein?«
    Max spürte die Hitze und einen schrecklichen Druck in seinem Kopf, und Clarissa sprach weiter und immer weiter und sprach von Leuten und Ereignissen, und mit ihren Worten malte sie Bilder, die er nicht sehen konnte. Er rieb sich die Augen. Die Hitze drückte auf seine Augenlider. »Wie sehen diese Kinder aus, Clarissa?«
    Sie zog ihm die Hand vom Gesicht. »Sieh mich mal eine Minute an. Ich habe gestern daran gedacht.« Sie lächelte. »Du hast dunkle Augen wie sie auch, nur sind ihre Augen durch und durch dunkel. In deinen Augen sind kleine Lichter.«
    Max drückte den Deckel der Truhe zu. Sein Kopf wirbelte von den Fragen, die er nicht zu stellen wagte.
    »So wie du von ihnen sprichst, könnte man sie sich beinahe als … nett vorstellen.«
    »Oh, sie sind tatsächlich nett.« Sie ergriff seine Hand. »Meistens jedenfalls.« Clarissas Gesicht verdunkelte sich. »Es war ihr Onkel, der mit allem angefangen hat, nachdem ihre Mutter weggegangen war. Du kannst ihnen keinen Vorwurf daraus machen, was ihr Onkel getan hat.«
    Wieder fühlte Max sich von Entsetzen gepackt.
    »Willst du nicht ein paar von den Briefen lesen?« fuhr Clarissa fort. »Du mußt mir einige Dinge erklären.«
    »Was für Dinge?«
    »Ich habe die Ausdrücke jetzt vergessen. Manche Wörter habe ich noch nie gehört.«
    »Ich werde die Briefe später lesen.«
    »Nun gut.« Ihr fiel eins der Wörter wieder ein. Sie hob ihre unschuldigen blauen Augen zu ihm auf. »Was ist Inzest?«
    »Mein Gott.« Es kam wie ein Hauch.
    »Und Sodomie? Das sind zwei von den Wörtern, die ich nicht verstehe. Willst du die Briefe lesen und mir alles erklären?«
    »Ich werde die Briefe lesen«, versprach er und würgte sein Entsetzen hinunter.
    Sie seufzte und faltete die Hände im Schoß. »Der Junge hat mir von dem Inzest erzählt, und ich sehe nicht ein, was daran Schlechtes sein soll. Das Mädchen lacht nur, wenn er mir solche Dinge erklärt, aber er sagt, zu lieben ist Teil der ganzen Welt. Das Lieben liegt in der Natur des Menschen.«
    Clarissa hob die Augen und hielt seinen Blick fest, und ihr bewußtes, wissendes Lächeln zerschmetterte seine Gedanken wie fallendes, brechendes Glas.
    »Es ist unser Geheimnis, Max«, sagte sie. »Wir dürfen es Louise nicht erzählen.«
    Max blickte zum Haus hin. Er sah den Schimmer, der sich von dem Rasen erhob. Er lauschte der Stille nach, die sich auf alle Dinge zu senken schien, als halte der Lauf der Zeit inne.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Wir dürfen es Louise nicht erzählen.«

 
XIX
     
     
    Am Donnerstag hatte die drückende Hitze eine allgemeine Lähmung hervorgerufen. Die Eichenblätter waren zur Unbeweglichkeit erstarrt, und am Himmel zeigte sich kein einziges Wölkchen.
    Nach dem Lunch schlurfte Louise die Treppe hoch in ihr Zimmer, um ein Schläfchen zu halten. Clarissa ging ebenfalls in ihr Zimmer und schloß die Tür. Max ließ sich mit Samenkatalogen, die morgens mit der Post gekommen waren, in der Bibliothek nieder. Eine Zeitlang las er darin und versuchte, seine Gedanken loszureißen von den Briefen, die Clarissa gefunden hatte, und den bruchstückhaften Informationen über die Zwillinge.
    Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß die Stille, die das Haus einhüllte, gestört wurde. Aber er vernahm kein Geräusch. Er stand auf und ging in die Diele. Im Haus war alles ruhig. Er lauschte, versuchte, wiederum das wahrzunehmen, was ihn aufgeschreckt hatte und was eher eine Bewegung als ein Geräusch gewesen war. Er zog sein T-Shirt aus und trocknete sich den Schweiß ab, der aus seinem dunklen Haar auf Stirn und Nacken rann. Der Laut kam wieder. Es war wie ein verstohlenes Atmen, wie ein Seufzer aus weiter Ferne.
    Der Schweiß lief ihm erneut übers Gesicht, und Max wußte, daß er Angst hatte. Irgendwo in diesem Haus lauerte etwas und erfüllte ihn mit Schrecken vor dem Unbekannten und vor der letztlich unausweichlichen Enthüllung dieses unbekannten Schreckens. Ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit, der Hilflosigkeit, der Unfähigkeit, sich zu bewegen, überschwemmte ihn.
    Und dann flog Clarissas Schlafzimmertür auf. Das Mädchen rannte in den Flur. Sie stand oben an der Treppe und weinte hysterisch. Sie zitterte. Mit beiden Händen umkrampfte sie ihre Arme.
    Langsam stieg Max die Treppe

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