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Ein letzter Brief von dir (German Edition)

Ein letzter Brief von dir (German Edition)

Titel: Ein letzter Brief von dir (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Ashton
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flüsterte: «Komm mit.» Sein Akzent war eine seidige Mischung aus romantischem Irisch und englischer High Society. Sie wandte sich halb um und sah ein Paar wacher, funkelnder Augen, die ihren Blick fesselten wie ein Scheinwerferkegel.
    «Du und ich», fuhr Sim fort, «gehen jetzt an einen ruhigen Ort, wo wir uns küssen können.»
    «Wie bitte?» Orla warf einen geringschätzigen Blick auf die Hand auf ihrer Schulter. «Ganz sicher werden wir uns nicht küssen. Ich kenne dich nicht. Und außerdem bist du …» Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    «Als Frau verkleidet?» Sim öffnete mit einem Tritt seiner goldenen Stilettos eine Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift BLEIBT DRAUSSEN , IHR SCHWEINE ! hing. «Nach dir.»
    «Ich gehe nur hier rein», sagte Orla, «weil es mein Schlafzimmer ist.»
    «Ach so. Nicht, weil du dies hier tun willst?» Sim beugte sich in der Dunkelheit zu ihr herunter und legte seine glänzend rot geschminkten Lippen auf Orlas. Er ließ sie dort, ohne zu atmen oder sich zu bewegen, einen merkwürdigen, wunderbaren Moment lang. Dann rückte er ein Stück ab und sah ihr in die Augen. «Du siehst aus wie eine Fee», flüsterte er. «Eine ziemlich böse Fee.»
    Orla wusste nicht, was sie sagen sollte. Dieser Fremde war über eins neunzig groß, er hatte eine hohe Stirn, eine gerade Nase und ein klassisches kantiges Kinn, breite Schultern, schmale Hüften. Er trug eine blond gelockte Perücke und ein smaragdgrünes, paillettenbesetztes Kleid mit einem Schlitz bis hoch zum Oberschenkel und benahm sich so unerhört anmaßend, wie sie es von dem vieldiskutierten Star der Revue auch erwartet hätte. Sie blinzelte und löste sich aus seiner Umarmung. Orla war schließlich kein Groupie.
    «Raus!», sagte sie in jenem ruhigen, aber keine Widerrede duldenden Tonfall, den sie an ihren Zweitklässlern bis zur Perfektion geübt hatte.
    «So grausam kannst du nicht sein.»
    Sims Worte waren von einem unverhohlenen Verlangen erfüllt, das irgendetwas in Orla anschaltete. Seine Augen glommen bernsteinfarben. Trotz der falschen Wimpern war sein Blick herausfordernd, frech, wissend und klug, und er ließ Orla begreifen: Sie war keine Fee. Sie war seine Beute, und sie konnte sich gar nicht dagegen wehren, von ihm gefressen zu werden.
    Sims Kuss begann vorsichtig – er berührte kaum ihre Lippen –, aber dann wurde er leidenschaftlich, ganz selbstverständlich und unausweichlich. Sein Mund spielte gierig mit Orlas Lippen, dann öffnete er sie mit der Kunstfertigkeit eines Virtuosen, und sie klebten aneinander. Der Rhythmus wurde schneller, drängender, wie die Musik, die durch die Wände hämmerte.
    Orla riss sich nur mit Mühe los. Sie spürte ihr glühendes, von Lippenstift und Rouge verschmiertes Gesicht. In einer Sekunde der Klarheit sah sie sich von außen: eine kleine Frau, die eine glamouröse Riesin küsste. «Das bin nicht ich!», sagte sie, einen Satz, den sie später bereuen würde und den Sim gerne zitierte, wobei er theatralisch die Hand an die Stirn legte.
    «Süße, ich bin das auch nicht.» Sim tat einen Schritt zurück und machte einen Knicks in seiner hautengen Robe. «Stört dich mein Kleid? Ich kann es ausziehen.» Seine Hände langten nach dem Reißverschluss.
    «Nein!» Als Kind hatte Orla Schwierigkeiten gehabt, rechts und links zu unterscheiden. Als Erwachsene schien sie ein ähnliches Problem mit Ja und Nein zu haben. Die Vorstellung, diesen unverschämten Mann bis auf die grünen Strumpfhosen nackt zu sehen, war gleichzeitig faszinierend und absurd. Sie wandte sich ab und fuhr sich nervös durch die Haare.
    Selbstbeherrschung war Orla immer wichtig gewesen. Sie hielt sich für eine reife, selbstsichere Frau, die überlegt ihren Weg ging, niemals affektiert kreischte und bestimmt nicht vor anderen weinte. Vor allem bewahrte sie bei Männern einen kühlen Kopf, und mit Transen zu knutschen, das ging nun wirklich gar nicht.
    Mit Ende zwanzig hatte Orla nur zwei Beziehungen gehabt, die diese Bezeichnung verdienten. Mann A hatte sie sehr gemocht, aber er war nach Belfast gezogen. Sie hatte geglaubt, in Mann B verliebt zu sein, bis sie immer mehr Kleinigkeiten an ihm störten, und daraufhin hatte sie auf zivilisierte Weise mit ihm Schluss gemacht. Aber keiner von beiden hatte diese wilde Reaktion in ihr hervorgerufen. Sie wollte diesen Mann auffressen. Stattdessen biss sie sich auf die Fingerknöchel, kniff im dunklen Zimmer die Augen zu und hoffte, dass er sich auf dieselbe Weise

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