Ein letzter Brief von dir (German Edition)
ein loses Mundwerk. Sie passte gar nicht zu den reichen Sprösslingen, die mit ihr in die Summer School gingen. «Sie ist eine harte Nuss.»
«Gut. Frauen müssen für sich selbst einstehen.» Maude schüttelte ärgerlich den Kopf, als Orla die Lampe abstellte. «Weiter nach links.»
«Brauchst du überhaupt eine Assistentin?»
«Wollen wir schon wieder mit dieser Diskussion anfangen, Orla-Liebes? Ich kenne mich in meinem Geschäft aus. Versuch es mal näher am Tresen.»
«So ungefähr?»
«Ja. Genau dort. Das Licht wirkt so viel freundlicher. Und jetzt», lächelte Maude, «schalte es mal aus.» Sie drehte das handgeschriebene Schild um, sodass man von außen «Geschlossen» sehen konnte, und ging langsam durch den Laden, tätschelte hier ein Buch, rückte dort einen Stapel zurecht.
Draußen lag London im Dunkeln. Ein milchiger dunkelblauer Dunst hing in den Straßen, wie man ihn in der tintenschwarzen Nacht über Tobercree niemals zu sehen bekam. Die vielbefahrene Straße pulsierte nachts in einem anderen Rhythmus als am Tag. Orla schaute hinaus und hatte zum ersten Mal das leise Gefühl, hierherzugehören.
Man hatte sie wieder zum Leben erweckt. Sie hatte das Gefühl der Wiedergeburt schon eine ganze Weile, es kauerte lange in ihrem Unterbewusstsein, und jedes Mal, wenn es sich in den Vordergrund drängte, hatte Orla es von sich geschoben: Sie fand es Sim gegenüber nicht loyal, das Leben zu genießen. Das gehörte sich nicht für eine liebende Frau in Trauer. Vor fünf Monaten wäre sie noch am liebsten in Sims Grab hinterhergesprungen, und jetzt stand sie hier, mit einem neuen Job und einer neuen Wohnung und einer neuen Freundin. Wenn sie an all das dachte, was sie in der kurzen Zeit erreicht hatte – ihre kleinen Heldentaten –, wollte sie am liebsten drei Stufen auf einmal nehmen und die Valentinskarte an die Brust pressen.
Vor zwei Jahren – oder war es noch länger her? –, als sie mit den Zutaten für ein Omelett in der Tüte zurück zu seiner Wohnung gingen, hatte Sim einmal das Thema Hochzeit angesprochen.
«Sag mal, Fee, hast du eigentlich so eine schreckliche Feministinneneinstellung zum Heiraten? Findest du, dass das patriarchalische Scheiße ist? Oder glaubst du, du könntest mich irgendwann mal heiraten?»
Was sie dachte, war:
Willst du damit sagen, dass du mich heiraten willst? Mich?
Ich
soll
dich
heiraten?
Was sie tat, war, den Köder aufzunehmen, auf sein absichtliches Missverstehen der feministischen Sicht auf die Ehe einzugehen und zu erklären: «Wenn irgendein Typ, den ich wie verrückt liebe, irgendwann mit mir einen Vertrag schließen möchte, den er Ehe nennt, dann würd ich vielleicht mitmachen.»
Orla verfluchte ihr selbstgefälliges jüngeres Selbst. Warum hatte sie sich nicht ein wenig Sentimentalität erlauben können? Ihm ein wenig mehr gegeben?
«Du siehst müde aus.» Maude hatte sich unbemerkt von der Seite angeschlichen. «Da sind ein paar hübsche kleine Linien unter deinen Augen, wie Risse im Eis.»
Nur Maude konnte so romantisch über Falten sprechen.
«Mmm, ich bin total gerädert.»
«Du bist vielleicht poetisch …»
Orla lachte gutmütig. «Ich habe nicht gut geschlafen. Heute Morgen hatte ich wieder den Fünf-Sekunden-Schrecken.»
«Oh,
Orla
.» Maudes Stimme war voller Mitgefühl. «Ich dachte, das hätten wir hinter uns.»
«Offenbar nicht.»
Am Anfang ihres Untermieterverhältnisses hatte Orla Maude einmal beschrieben, wie sie sich am Morgen fühlte. Wie sie unter der Bettdecke erwachte, die Glieder warm und schwer vom Schlaf, das Bewusstsein noch etwas wackelig, und wie in diesen fünf Sekunden Sim noch nicht tot war und alles mehr oder weniger in Ordnung mit der Welt war. Wie sich dann die Kanten des Zimmers bewegten und wieder festigten und Sim verschwand und sie erneut ganz allein ließ. Der Fünf-Sekunden-Schrecken.
Und dann, eines Tages – kein Schrecken. Dann noch ein Tag ohne ihn, dann wieder der Schrecken; dann drei Tage ohne. So war es immer weitergegangen, bis Orla es gewagt hatte, zu glauben, dass sie geheilt war.
«Es ist nur ein Ausnahmetag, Liebes.» Maude klang so überzeugend. Sie steckte sich einen Stift ins Haar, das heute aussah wie ein derangiertes Vogelnest. «Kein Wunder, dass du erschöpft bist. Dein neuer Job fordert dich ja auch ganz schön.»
«Aber ich liebe es, wenn man mich fordert.» Gebraucht zu werden, genau das hatte sie in der ersten Zeit in London sehr vermisst. «Die meisten aus meiner Klasse wollen
Weitere Kostenlose Bücher