Ein letzter Brief von dir (German Edition)
langweilte, stellte sie sich Maudes Vergangenheit vor, aber niemals hatte sie so ausgesehen. Sie stopfte ihr Make-up zurück in das Schminktäschchen, stand auf und griff nach einer dunkelroten Jeans. Das schwarze Kleid mit dem Zeugs wirkte auf einmal zu aufgebrezelt.
«Vier Kinder, Maude?»
«Alles Mädchen.» Die leiseste Andeutung eines Lächelns zuckte über Maudes Züge. «Ich bin also auch
aus dem Grab heraus sitzengelassen worden
.» Maude versuchte im Scherz, mit gruseliger Grabesstimme zu sprechen, aber sie war bleich, und es gelang ihr nicht. «Du irrst dich, Orla. Man
kann
einen solch haarsträubenden Betrug überleben. Es ist ein Gemeinplatz, aber ich weiß, wie du dich fühlst.»
«Ja. Ich wünschte, du wüsstest es nicht.»
«Ach was. Es hat aus mir die Frau gemacht, die ich bin. Ich würde keine einzige Stunde meines Lebens hergeben, nicht einmal eine von den wirklich abscheulichen. Und das solltest du auch nicht tun. Wenn du mir auch nur ein bisschen ähnelst, wolltest du anfangs alles nicht wahrhaben, nehme ich an. Alle deine Sinne haben dir gesagt, dass dein geliebter Sim niemals so grausam gewesen sein könnte.»
Orla nickte.
«Dann kam unbändige Wut, die Sorte, die einen nach Sachen oder sogar Leuten treten lässt.»
«Ziemlich viel davon», gab Orla zu.
«Ich habe damals eine wunderhübsche Schale aus Meißner Porzellan zerschlagen, als ich vom Anwalt nach Hause kam. War seit Urzeiten im Familienbesitz. Am liebsten wäre ich zu der Frau gefahren und hätte mit ihr mein Hühnchen gerupft. Kannst du dir das vorstellen?»
Nur zu gut. «Mhm.» Heftig zog Orla am Reißverschluss ihrer Jeans.
«Ich habe mich zusammengerissen. Das Kind war im Brunnen und so weiter. Was hätte sie mir sagen sollen, was mich nicht noch mehr verletzt hätte?»
«Da hast du wohl recht.» Orlas Gesicht lag im Schatten, als sie in den Schrank griff und eine Bluse mit aufgedruckten Schwalben herauszog.
«Ich vermute, inzwischen bist du in die nächste Phase eingetreten – tiefe, tiefe Trauer. Stimmt’s?» Maudes Stimme schwamm in Mitleid.
«Ja», sagte Orla kurz angebunden und zog sich die Bluse über den Kopf. Dann wurde sie von Trostlosigkeit überwältigt, und sie erstarrte mit in die Ärmel gestreckten Armen, in der Haltung einer Vogelscheuche. «Sag mir, wie ich da wieder rauskomme, Maude.»
Mit gesenkten Augen dachte Maude einen Moment nach. «Ich weiß, jede Generation denkt, sie hätte das Gefühl erfunden, aber ich habe Arthur wahrscheinlich genauso geliebt wie du Sim.»
«Geliebt!»,
fauchte Orla, die nun wieder in Bewegung kam und die winzigen Knöpfe in Angriff nahm.
«Na ja, als ich die Meißner Scherben zusammenkehrte, habe ich die Vergangenheitsform benutzt, aber ich habe meine Liebe zu ihm später wiedererobert. Es war kompliziert, aber ich habe es zu meinem eigenen Besten und für ihn getan.»
«Ich will ihn nicht lieben. Nur ein Idiot würde jemanden lieben, der ihm das angetan hat. Wenn ich überleben will, muss ich ihn hassen», sagte Orla kläglich. «Wie können sie so etwas nur tun, diese Männer?»
«Paare sind grausam zueinander. Arthur und Sim waren nicht die Schlimmsten. Wir haben sie geliebt, und diese Liebe hat etwas bedeutet. Diese Bedeutung musst du hochhalten, wertschätzen. Sie können ihr Vorgehen aus dem Grab heraus nicht mehr erklären oder verteidigen. Wir müssen einen Weg finden, sie wieder zu lieben und sie damit loszulassen.»
«Wie hast du das gemacht?» Orla erhoffte sich genaue Anweisungen. Die Taktik, die sie sich selbst ausgedacht hatte, wirkte nicht gerade vielversprechend.
Maude seufzte, veränderte mit knacksenden Knien ihre Sitzposition und sagte: «Ich habe ganz von vorne angefangen. Nicht nur Arthur hatte mich belogen. Meine Familie hat es auch gewusst. Da ich nicht in der Lage gewesen war, meine ehelichen Pflichten zu erfüllen, sahen sie ein, dass Arthur einen Erben brauchte. Wenn ich meiner Mutter ins Gesicht sah, fragte ich mich, wie oft sie mir gegenübergesessen und über alles Mögliche geplaudert, sich aber dagegen entschieden hatte, mich vor dem größten Schicksalsschlag meines Lebens zu warnen. Nein, ich hatte dafür kein
Verständnis
, und das habe ich immer noch nicht. In der Liebe gibt es bestimmte Spielregeln. Ich meine nicht Moralvorstellungen, sexuelle Ge- und Verbote. Ich meine Sachen wie Respekt und Ehrlichkeit, sei es in einer Ehe oder zwischen Mutter und Kind.»
Maude klatschte sich auf den Oberschenkel. Sie schien erleichtert,
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