Ein Lied für meine Tochter
Räume gerade unbesetzt sind (der Französischkurs ist auf einem Ausflug, die Kunstklasse schaut gerade einen Film in der Aula). Heute zum Beispiel treffen wir uns in dem Klassenzimmer, das normalerweise der Gesundheitsaufklärung vorbehalten ist. Wir sind von lauter Postern umgeben, auf denen so inspirierende Sprüche stehen wie: DAS IST DEIN GEHIRN AUF DROGEN oder ALKOHOL IST NUR FÜR LOOSER.
Wir haben Songtexte analysiert. Das habe ich auch früher schon mit Gruppen im Altenheim gemacht, denn das bringt die Leute dazu, miteinander zu interagieren. Für gewöhnlich beginne ich damit, ihnen den Namen eines Liedes zu nennen – oft eines, das sie nicht kennen –, und bitte sie zu raten, worum es in dem Song wohl gehen könnte. Dann singe ich es und frage nach den Worten und Phrasen, die ihnen besonders aufgefallen sind. Wir sprechen über die persönlichen Reaktionen auf den Text, und schließlich frage ich nach den Gefühlen, die der Song hervorgerufen hat.
Weil ich nicht geglaubt habe, dass Lucy sich verbal würde öffnen wollen, habe ich sie aufgefordert, ihre Reaktionen auf einen Text zu malen. »Es ist sehr interessant, dass du eine Meerjungfrau gemalt hast«, sage ich. »Engel werden normalerweise nicht unter Wasser dargestellt.«
Lucy zuckt unwillkürlich zusammen. »Sie haben doch gesagt, dabei gäbe es kein Richtig oder Falsch.«
»Gibt es auch nicht.«
»Ich nehme an, ich hätte auch eines dieser total deprimierenden Tiere zeichnen können, wie man sie in diesem Tierschutzspot sieht …«
Der lief nun schon seit einigen Jahren, eine Montage von traurig dreinblickenden Welpen und Kätzchen, und im Hintergrund wurde dieser Song gespielt.
»Weißt du, Sarah McLachlan hat mal erzählt, sie hätte den Song für den Keyboarder der Smashing Pumpkins geschrieben, der an einer Überdosis Heroin gestorben ist«, sage ich. Ich hatte dieses Lied ausgesucht, weil ich gehofft hatte, Lucy so dazu zu bewegen, mit mir über ihre Selbstmordversuche zu reden.
»Pah. Deshalb habe ich ja eine Meerjungfrau gemalt. Sie schwebt und ertrinkt zugleich.«
Manchmal sagt Lucy Dinge, bei denen es mir einfach die Sprache verschlägt. Ich frage mich, wie Vanessa und all die anderen Schulpsychologen auf den Gedanken gekommen sind, dass Lucy sich von der Welt abkapseln würde. Sie hat diesen Song besser auf den Punkt gebracht, als wir anderen es je hätten tun können.
»Hast du dich je so gefühlt?«, frage ich.
Lucy hebt den Blick. »Als hätte ich eine Überdosis Heroin genommen?«
»Zum Beispiel.«
Sie malt das Haar der Meerjungfrau aus und ignoriert die Frage. »Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wie würden Sie dann sterben wollen?«
»Im Schlaf.«
»Das sagt jeder.« Lucy rollt mit den Augen. »Und wenn das nicht möglich wäre, wie dann?«
»Das ist ein ziemlich morbides Gespräch …«
»Wie Gespräche über Selbstmord.«
Das kann ich nicht leugnen, also nicke ich. »Schnell. Ich würde vor allem schnell sterben wollen. Wie zum Beispiel durch ein Erschießungskommando. Ich möchte nichts davon spüren.«
»Ein Flugzeugabsturz«, sagt Lucy. »Da werden Sie förmlich vaporisiert.«
»Ja, aber wenn ich mir vorstelle, was in den Minuten davor passiert, wenn man weiß, dass es abwärts geht …« Ich schaudere. Früher habe ich tatsächlich immer Albträume von Flugzeugabstürzen gehabt. Ich habe geträumt, nicht schnell genug an mein Handy zu kommen, um Max anzurufen und ihm sagen zu können, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe mir immer vorgestellt, wie er nach meiner Beerdigung am Anrufbeantworter sitzt, sich die Stille auf dem Band anhört und sich fragt, warum ich ihn nicht angerufen habe.
»Ich habe gehört, Ertrinken sei gar nicht so schlimm«, fährt Lucy fort. »Man verliert das Bewusstsein, lange bevor all die üblen Sachen passieren.« Sie schaut auf das Blatt mit ihrer Meerjungfrau. »Aber bei meinem Glück werde ich vermutlich sogar unter Wasser atmen können.«
Ich schaue sie an. »Wäre das denn so schlecht?«
»Wie begehen Meerjungfrauen Selbstmord?«, sinniert Lucy. »Tod durch Sauerstoff?«
»Lucy«, sage ich und warte, bis sie mir in die Augen schaut, »denkst du noch immer darüber nach, dir das Leben zu nehmen?«
Sie macht sich nicht lustig über die Frage, aber sie antwortet mir auch nicht. Stattdessen zeichnet sie Muster in den Schwanz der Meerjungfrau. »Wissen Sie, warum ich manchmal so wütend bin?«, sagt sie. »Weil Wut das Einzige ist, was ich noch fühle. Und ich muss etwas
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