Ein Lied für meine Tochter
Es war Max’ Idee, hier rauszukommen, wenn das Meer noch ruhig ist. Weder Fischkutter noch Wochenendsegler sind jetzt auf dem Wasser. Ich sitze mitten auf der Bank und habe den Karton auf meinem Schoß. Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich das Brummen des Motors und das Rauschen der Wellen zu einem Hip-Hop-Beat, und ich trommele im Takt dazu mit den Fingern auf meinem Sitz.
Nach gut fünfzehn Minuten stellt Max den Motor ab. Wir schaukeln auf den Wellen.
Max setzt sich mir gegenüber und klemmt die Hände zwischen die Knie. »Was, denkst du, sollen wir jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Möchtest du …?«
»Nein«, komme ich seiner Frage zuvor und drücke ihm den Karton in die Hand. »Tu du es.«
Max nickt und holt den kleinen Keramikschuh aus dem Karton. Ein paar Styroporflocken flattern im Wind davon. Ich bekomme Panik. Was, wenn genau im falschen Moment eine Windbö über das Boot weht? Was, wenn die Asche in meinem Haar oder auf meiner Jacke landet?
»Ich habe das Gefühl, wir sollten etwas sagen«, murmelt Max.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. »Es tut mir leid«, flüstere ich.
Weil mir nichts Besseres einfällt.
Weil ich das einfach einmal sagen muss.
Weil ich dich nicht noch ein paar Wochen lang habe beschützen können.
Max streckt den Arm aus und drückt meine Hand. »Mir auch.«
Wie sich herausstellt, ist mein Baby nicht mehr als ein kalter Hauch, eine Staubwolke. Die Asche verschwindet, kaum dass sie in der Luft ist. Hätte ich geblinzelt, ich hätte so tun können, als wäre das nie geschehen.
Aber ich stelle mir vor, wie die Asche sich auf die Wellen legt. Ich stelle mir vor, wie die Sirenen am Meeresgrund ihn mit ihrem Gesang zu sich locken.
Max kommt zu spät zu dem Termin mit Dr. Gelman. Er kommt in das mit Holz getäfelte Sprechzimmer und riecht nach Laub. »Tut mir leid«, entschuldigt er sich. »Es hat ein wenig länger gedauert.«
Es gab eine Zeit, da ist er zu unseren Terminen stets zehn Minuten zu früh gekommen. Einmal, als sein Truck eine Panne hatte, ist er mit einer Spermaprobe zur Klinik gejoggt, damit sie noch rechtzeitig eintrifft, um die entnommenen Eizellen zu befruchten. Doch in den zwei Wochen seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus haben sich unsere Gespräche auf das Wetter, die Einkaufsliste und das abendliche Fernsehprogramm beschränkt. Jetzt setzt Max sich neben mich auf einen Stuhl und schaut die Gynäkologin erwartungsvoll an. »Ist sie okay?«, fragt er.
»Es gibt keinen Grund, warum Zoe sich nicht wieder vollständig erholen sollte«, antwortet Dr. Gelman. »Da wir von der Thrombophilie wissen, können wir das mit Medikamenten in den Griff bekommen. Und die Fasern, die wir unter der Plazenta gesehen haben … Nun, wir hoffen, dass sie wieder schrumpfen werden, sobald Zoes Hormonhaushalt sich nach der Schwangerschaft wieder normalisiert hat.«
»Aber was ist mit dem nächsten Mal?«, frage ich.
»Ich rechne mit keinem weiteren Gerinnsel mehr, solange wir sie auf Warfarin …«
»Nein«, unterbreche ich sie. »Ich meine, was ist, wenn ich das nächste Mal schwanger werde. Sie haben gesagt, ich könne es noch einmal versuchen.«
»Was?«, sagt Max. »Was zum …?«
Ich drehe mich zu ihm um. »Wir haben noch drei Embryonen. Drei gefrorene Embryonen, Max. Wir haben auch nach meiner letzten Fehlgeburt nicht aufgegeben. Und das werden wir auch diesmal nicht tun.«
Max wendet sich an Dr. Gelman. »Sagen Sie’s ihr. Sagen Sie ihr, dass das eine dumme Idee ist.«
Die Gynäkologin streicht mit dem Daumen über den Rand ihres Löschpapiers. »Die Chance, dass Sie noch einmal einen Plazenta-Abriss erleiden werden, stehen zwischen zwanzig und fünfzig Prozent. Und dazu kommen noch andere Risiken, Zoe. Präeklampsie zum Beispiel: Der hohe Blutdruck und die Schwellung würden erfordern, dass Sie Magnesium nehmen, um Krampfanfällen vorzubeugen. Sie könnten einen Schlaganfall …«
»Himmel!«, murmelt Max.
»Aber ich kann es versuchen«, erwidere ich und schaue Dr. Gelman in die Augen.
»Ja«, antwortet sie. »Wenn Sie sich der Risiken bewusst sind, dann können Sie das.«
»Nein.« Das Wort ist kaum zu hören, als Max aufsteht. »Nein«, wiederholt er und verlässt den Raum.
Ich folge ihm, laufe ihm auf dem Flur hinterher und packe ihn am Arm. Er schüttelt mich ab. »Max!«, brülle ich ihm hinterher, doch er ist schon auf halbem Weg zum Aufzug. Er geht hinein, und ich erreiche die Tür, kurz bevor sie sich wieder schließt.
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