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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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zwei Stunden. Es fiel ihr schwer, sich auf ihren Aufsatz zu konzentrieren. »Mens sana in corpore sano« hieß das Thema, »Zucht des Leibes ist Zucht des Geistes. Erläutern Sie die Bedeutung dieses Wahlspruchs für die Erziehung der deutschen Jugend!«
    Luise mochte Deutsch manchmal schon. Sie hatte immer gerne gelesen, aber Besinnungsaufsätze hatte sie noch nie leiden können und deshalb in Deutsch ihr »befriedigend« durch alle Jahre hinter sich hergezogen. Verstohlen sah sie zu Eva hinüber. Ihre Blicke trafen sich, und Eva hob in einer winzigen Bewegung ihre Schultern und ihre Brauen, um anzudeuten, wie sehr sie das Thema anödete, obwohl sie in Deutsch viel ­besser als Luise war. Luise signalisierte ihr Verständnis mit einem kurzen mitleidigen Lächeln. Warum waren es auch immer nur so alte, verstaubte Themen? Warum schrieben sie nie über die neuen, modernen Dinge? Es musste ja nicht unbedingt übers Fliegen sein, aber warum nie über Filme, die sie im Kino sahen? Warum nicht einmal über Amerika oder übers Reisen oder über Autorennen? Es waren immer die gleichen Themen. Das Thema der Tugend in der Jungfrau von Orleans . Das Thema der Ehre in Goethes Iphigenie . Das Thema der Selbsthingabe in Maria Stuart . Herr Junge, ihr Deutschlehrer, war einer von den ganz übertriebenen Nationalsozialisten. Wahrscheinlich war er verbittert, weil seine Partei nie gewann, und deshalb hundertfünfzigprozentig. Bei ihm gab es einfach keine anderen Aufgaben. Immer hatte alles mit Ehre und Disziplin und Zucht zu tun. Sie war so froh, dass sie das bald hinter sich hatte. Und irgendwie kam ihr das alles auch nicht mehr so wichtig vor. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie die Stadt von oben ausgesehen hatte. Übersichtlich. Klein. Geschlossen. Luise fühlte fast, wie kühl und wie wunderbar windig es dort oben gewesen war, und spürte zugleich, wie ihr hier unten das Kleid am Körper zu kleben begann. Es war so heiß! Erschrocken merkte sie, dass sie träumte, und gab sich innerlich einen Stoß. Ihr Aufsatz war noch nicht halb geschrieben, und Junge benotete alle unfertigen Aufsätze mit »ungenügend«, gleichgültig, wie klug die Gedanken vorher waren.
    Der Pedell hatte aus Rücksicht auf die Prüflinge die Glocke im oberen Stockwerk ausgehängt, aber das machte eigentlich alle nervöser, als wenn sie zu jedem Stundenwechsel geschrillt hätte. Dann hätte man wenigstens gewusst, wie viel Zeit man noch hatte, ohne immer der Kirchturmuhr lauschen zu müssen. Luise hörte die Federn kratzen und ab und zu das leise Klingen, wenn die Federhalter beim Eintauchen in die Tinte am Glas anstießen. Seufzend beugte sie sich wieder über das Papier, als sie von draußen auf einmal schnelle Schritte und zunächst undeutlich, aber dann immer näher, die aufgeregte Stimme des Pedells hörte.
    »Sie können da jetzt nicht hinein! Es ist Prüfung! Bitte, Herr Schwarz! Herr Schwarz!«
    Die ganze Klasse hatte aufgehört zu schreiben und die Köpfe gehoben. Auch Junge hatte die Zeitung sinken lassen und sah mit gerunzelter Stirn nach der Tür, die in diesem Moment auch schon vehement aufgerissen wurde. Luise war vollkommen überrascht. Es war der Mesner, der dort stand und schwer atmend die Bänke mit seinen Blicken überflog, bis er Eva sah, die vollkommen weiß geworden war.
    »Du gottloses, verderbtes Geschöpf!«, sagte er mit seiner unangenehm hohen Stimme leise, aber vernehmlich und voller Hass. Jetzt erst sah Luise, dass er eine Kladde in der linken Hand hielt, in die er den Zeigefinger geklemmt hatte. Es sah so aus, als wäre er direkt vom Lesen aufgestanden und hierhergeeilt. Er trat neben Evas Bank und ohrfeigte sie. Dann zog er sie am Arm.
    »Komm nach Hause. Komm sofort nach Hause«, zischte er.
    Jetzt mischte sich Junge ein, der bisher fast ebenso verblüfft wie die Mädchen zugesehen hatte.
    »Herr … Schwarz«, sagte er, nachdem er sich auf den Namen besonnen hatte, und es war ihm anzuhören, wie deutlich er diese Unterbrechung missbilligte, »wir sind hier mitten in den Abschlussprüfungen. Ich kann schon im Interesse der anderen Mädchen keine solche Störung dulden. Bitte verlassen Sie das Zimmer. Ich komme gerne mit hinaus, der Pedell wird so lange die Aufsicht führen.«
    Der Mesner sah zwischen Junge und Eva hin und her. Luise wusste nicht, worum es ging, aber die Kladde konnte gut und gern Evas Tagebuch sein, und den Rest konnte sie sich zusammenreimen. Über Evas Gesicht rollten Tränen, aber sie war immer

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