Ein Lied über der Stadt
zu ihrem Zimmer. Über die Schulter rief er: »Ach was. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen , sagt die Bibel. Und so eine verlorene Tochter statt eines verlorenen Sohnes, das ist mal eine hübsche Abwechslung.«
Luise musste lachen. Papa hatte wohl verstanden, wie schwer es ihr fiel zurückzukehren, und es ihr auf seine Weise ein wenig leichter gemacht.
»Dein Zimmer ist ganz, wie es war«, sagte ihr Vater, als er die Türe geöffnet hatte. Es klang fast ein wenig erstaunt, so als sei er seit Luises Auszug nicht dort gewesen. Luise dachte, dass das durchaus sein konnte. Über Papa konnte wahrscheinlich das Dach wegfliegen, und er würde es erst merken, wenn es in sein Arbeitszimmer regnete.
»Wo sind Paul und Luana?«, fragte sie, als sie ihren Korb auf ihren alten Schreibtisch stellte.
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Machen einen Ausflug, nehme ich an. Paul ist kein Freund nationalsozialistischer Umzüge«, sagte er spöttisch, »sie haben die Fahrräder genommen und sind in den Wald gefahren.«
»Aber er ist doch in der Partei!«, sagte Luise. »Muss er da nicht dabei sein?«
Papa war schon auf dem Weg nach unten, als er antwortete: »Als Buchhalter in der Brauerei … es ist ihm nichts anderes übrig geblieben. In dieser neuen Zeit und in unserer Brauerei, haben sie gesagt, ist man entweder Pg. oder man arbeitet woanders. Hier kannst du halt nirgendwo anders arbeiten. Hier sind alle Betriebe Parteibetriebe. Aber dieses Theater da draußen mitmachen? Diesen Krawall? Da ist er dann doch ein bisschen klüger.«
Er hatte die Stimme erhoben, weil er schon am Fuße der Treppe war, doch die Empörung hörte man auch durch. Als Luise die Tür schloss, fühlte sie fast so etwas wie einen leisen Neid auf den unbekümmerten Zorn ihres Vaters, seine naive Empörung über diese neue Zeit. Allerdings war es eben auch nicht die Zeit für Unbekümmertheit und Naivität. In München hätte er längst Ärger gehabt, dachte Luise, aber man musste auch hier vorsichtig sein. Es war eben wirklich eine neue Zeit. Hier in ihrem Zimmer dagegen war alles, wie es vor fast sechs Jahren gewesen war. Als ob die Tage einfach stehen geblieben wären. Mit einer Ausnahme. Auf dem Fensterbrett stand ein Wasserglas mit einem kleinen Strauß früher Blumen. Ein Zettelchen lag daruntergeklemmt. Luise nahm es hoch.
Willkommen zu Hause , stand darauf, Luana und Paul .
Und da war es wieder, dieses Gefühl von Wehmut und Zorn. Die Freude darüber, aufgenommen zu sein, und die Trauer, die Freiheit verloren zu haben. Sie dachte daran, was Paul vor sechs Jahren erzählt hatte, von den Bären, die ihren Käfig nicht verlassen hatten, obwohl die Türen weit offen waren. Sie hatte den ihren verlassen, und jetzt musste sie doch in ihn zurück. Weil im Käfig die Freiheit größer war als draußen. Ja, dachte sie und hob resigniert die Schultern, willkommen daheim.
2
Das Schöne war, dass manche Sachen einfach immer gleich zu bleiben schienen, auch wenn die Welt sich ringsum immer schneller änderte. Luise war schon mit der Dämmerung aufgewacht, vielleicht, weil es hier so still war. In München gab es solche stillen Morgen nicht. Da ratterten die Milchlaster, die Tram klingelte, die Lastkraftwagen von hundert Baustellen der Stadt dröhnten schon vor sechs Uhr morgens. Luise hatte sich an den Lärm gewöhnt, und hier wachte sie auf, weil er nicht da war. Nachdem sie noch ein paar Minuten liegen geblieben war, ging sie ans Fenster und sah in den Garten. Ja. Da stand ihr Vater mit dem Rücken zu ihr. Nackt, wie seit vielen Jahren jeden Morgen, ob im Sommer oder im Winter, stand er da, hatte die Arme zum blassen Frühlingshimmel erhoben und atmete tief und sehr langsam ein und aus. Er sieht womöglich noch magerer aus als früher, dachte Luise liebevoll, als sie zurücktrat und sich noch einmal ins Bett legte. Dann hörte sie ihn durch das offene Fenster singen, nicht laut, aber vernehmlich und sicher: » Lobet den Herren, alle, die ihn ehren … «
Da ist einer, dachte sie, der sich nicht irremachen lässt. Da ist einer, der weiß, was recht und was unrecht ist. Einer, der nicht zweifelt, sondern ruhig und sicher seinen Weg geht. Und ich?
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte ihr Vater, als sie am Frühstückstisch saßen. Paul las die Zeitung. Luanas Platz war leer. Ihr war übel, und sie war wieder nach oben gegangen, um sich noch etwas hinzulegen. Luise zuckte mit den Achseln.
»Wie viele Schulen gibt es hier in der Gegend?«,
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