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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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sie die Treppe hinaufrannte, aber sie verstand nicht, was. Wie Paul sich verändert hatte! Sie war wütend auf ihn, aber noch wütender war sie auf sich selbst. Lag es an ihr? Hatte sie versagt? Warum war sie keine Reitsch geworden, keine Beinhorn? Vielleicht hätte sie ihr Studium auch aufgeben sollen und nur noch fliegen? Aber sie war Papa zuliebe zur Universität gegangen. Das war die Abmachung gewesen.
    Was wirst du jetzt tun? Papas Frage klang in ihren Ohren nach. Sie wusste es nicht. Das Studium war zu Ende, sie hatte ein Examen, das nichts wert war, und einen Pilotenschein, der auch nichts mehr wert war. Und einen Verlobten, dachte sie in einem Anflug von Bosheit, der auch nichts mehr wert war. Aber das war eigentlich nicht fair. Greben war nicht verkehrt. Aber es hatte einfach nicht mehr geklappt zwischen ihnen. Für Greben war immer alles wie ein Spiel gewesen, wie ein Abenteuer. Das Fliegen. Die SA. Und Luise. Sie erinnerte sich, dass sie einmal von einem Ausflug zurückkamen und sahen, wie ein Trupp SA-Leute einen Juden schikanierte. Die waren ihm von der Trambahnstation Marienplatz gefolgt, hatten ihm erst die Aktentasche weggenommen und sich dann darüber amüsiert, als er versuchte, sie zurückzubekommen. Am Anfang hatten sie noch gelacht und ihn getriezt, wie man in der Schule den Primus triezte. Aber dann hatten sie angefangen, ihn herumzuschubsen. Er wehrte sich, da kippte plötzlich alles, sie hatten ihn zusammengeschlagen, seine Brille zertreten und ihm – das hatte Luise am schlimmsten gefunden – die Hosen heruntergezogen und weggenommen. Der Mann hatte mit aufgeplatzter Lippe, grün und blau geschlagen und ohne Hosen nach Hause laufen müssen. Keiner hatte ihm geholfen. Die Leute hatten gelacht. Greben auch. Luise hatte ihm später eine Szene deshalb gemacht, und Greben hatte nur achselzuckend gesagt, dass sich das schon noch geben würde. Da wären halt auch Rabauken in der SA, und schließlich hätten es die Juden schon auch verdient. Und am Anfang müsse man halt Zeichen setzen, da ginge es dann schon mal rauer zu.
    Luise hatte keine Erfahrung mit Juden. Der einzige, den sie kannte, war der alte Feinmann, der Besitzer des Kolonialwarengeschäftes zu Hause, bei dem sie als junges Mädchen gearbeitet hatte. Mehr Juden gab es hier auch gar nicht. Und es war natürlich ein völliger Unsinn, dass alle Juden gleich waren, das hatte sie Greben auch gesagt, und er hatte zum Schluss zugeben müssen, dass er auch einen kannte, der eigentlich ganz in Ordnung war, ein schneidiger Flieger. Sie hatten dann nicht mehr darüber geredet, aber das Bild war Luise trotzdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Vielleicht gar nicht so sehr wegen der Prügelei selbst, sondern weil Greben gar kein Gefühl dafür hatte, wie feige das gewesen war: acht, neun Leute gegen einen. Dass er das gar nicht spürte, wo er doch so für Mut und Schneid und Ehre war. Das hatte ihr ja am Anfang auch an ihm gefallen. Und hier wollte er es nicht sehen, weil es um einen Juden ging. Es war einfach nicht richtig.
    Dabei hatte er ihr doch so viel beigebracht. Zusätzliche Flugstunden hatte er ihr gegeben, ohne dass sie dafür zahlen musste. Sie lächelte kurz, als sie sich daran erinnerte. Am Anfang war er richtig ritterlich gewesen. Und später … später auch, dachte sie. Er hatte ganz genaue Vorstellungen von der Jungfräulichkeit eines deutschen Mädels gehabt; dass sie unberührt in die Ehe gehen sollte, dass die Zucht des Leibes auch Zucht des Geistes war oder andersherum – sie hatte das schon in der Schule nie richtig verstanden. Aber geküsst hat er gut, dachte sie und ärgerte sich über die Gefühle, die durch die Erinnerung in ihr geweckt wurden. Es ist vorbei, mahnte sie sich, und das ist auch gut so.
    Dann legte sie den Koffer aufs Bett, den sie am Tag zuvor geschlossen neben den Tisch gestellt hatte, als ob sie bald weiterreisen würde, öffnete die Schranktüren und begann, ihre Kleider einzuräumen. München war vorbei.

3

    » E ainda bem «, seufzte Luana in glücklicher Erleichterung, als sie etwa eine Woche später nach dem Mittagessen auf die Terrasse kam, wo Luise saß und las. »Der Frühling ist da! Endlich.« E ainda bem hatte Luise Luana lange nicht mehr sagen hören. Es hieß so etwas wie »Gott sei Dank«, und Luana sagte es nur, wenn sie wirklich froh war, dass etwas noch einmal ein gutes Ende genommen hatte. Für Luana gehörte der Winter in Deutschland zu den Dingen, die sie ernsthaft bedrückten, und es

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