Ein Lied über der Stadt
Geradeaus konnte man dort immer nur für ein paar Schritte gehen, und geradeaus denken konnten die da unten auch nicht, aus Angst, an eine Mauer zu stoßen, auch wenn da vielleicht gar keine war. Die richtige Freiheit gab es dort unten nicht mehr. Das richtige Leben war nur noch hier oben.
Sie stand frei und sicher auf der Festungsmauer, die direkt vor ihr über achtzig Meter abstürzte, sah über das Land und dachte an Paul und Luana und das Kind, das sie bekamen, an ihren Vater, der immer noch sagte, was er für richtig hielt, und um den die Mauern zusehends zusammenrückten, ohne dass er es merkte. Und sie dachte daran, was werden sollte. Und schließlich, als die Sonne untergegangen war und nur noch der Himmel hell war, hell und leer, stellte sie sich mit brennender Sehnsucht vor, wie es wäre, weiter und weiter in diesen Himmel zu fliegen und nie mehr landen zu müssen.
4
Es war ein schwer zu bestimmendes Gefühl, durch die alte Schule zu gehen. Acht Jahre hatte Luise dort verbracht, und nie waren ihr die Risse im blätternden elfenbeinfarbenen Lack an den Türen aufgefallen. Ihre Schritte auf dem steinernen Gang hallten im Schulhaus wider und weckten die unangenehme Erinnerung an die wenigen Male, die sie so spät gekommen war, dass sie alleine an den geschlossenen Türen entlanglaufen musste und deshalb die eigenen Schritte hören konnte. Aus den Räumen klang gedämpft das Summen geschäftiger Klassen, ein ununterscheidbares Gemurmel. Nur durch eine Tür in der Nähe des Direktorats drang klar und vernehmlich Dr. Mandls Stimme, der eben die Inhaltsberechnung eines Kegelstumpfes erklärte. Luise lächelte kurz. Der war immerhin auch noch da. Soweit sie sich erinnerte, hatte Dr. Mandl immer Zentrum gewählt, obwohl er kein Katholik war, und aus seiner politischen Gesinnung nie einen Hehl gemacht. Aber in Mathematik gab es zum Glück keine Politik, da konnten sie ihm vermutlich nichts wollen.
Sie war beim Direktorat angelangt und klopfte. »Herein«, rief Fräulein Bartel mit ihrer dünnen Stimme, und Luise trat ein.
»Der Herr Direktor brauchen noch einen Augenblick«, sagte Fräulein Bartel in dieser altmodischen Sprechweise, über die Luise sich schon als Schülerin lustig gemacht hatte. Sie war ihnen damals schon unendlich alt vorgekommen. Aber daran lag es nicht, dass sie stutzte.
»Was ist denn mit Frau Direktor Kümmel?«, fragte Luise überrascht. Im Gegensatz zu Fräulein Bartel war die Direktorin nicht so alt gewesen, dass sie schon pensioniert sein konnte.
»Frau Direktor Kümmel ist aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand getreten«, erklärte Fräulein Bartel. In ihrem Tonfall lag so etwas wie Befriedigung.
Ja, dachte Luise, die sofort verstanden hatte, das ist es. Die Lust der Kleingeister am Sturz der Klügeren, Besseren, Weitherzigeren. Wer sich über das Mittelmaß erhoben hatte, der zahlte jetzt dafür. Die Direktorin war eine kluge, offene Frau gewesen, die niemandem nach dem Munde geredet hatte. Wer wusste schon, worüber sie gestolpert war und weshalb. Weil sie eine Frau der Kirche war, eine der wenigen Katholikinnen am Ort, die keinen Hehl daraus machte, dass sie Zentrum wählte, ebenso wie Dr. Mandl? Weil sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielt? Weil sie eine Frau war? Wahrscheinlich alles zusammen, dachte Luise ernüchtert. Sie hatte ihre Bewerbung noch an sie gerichtet und war gespannt, wer inzwischen die Leitung hatte. Sie kam sich hier im Sekretariat auf einmal wieder vor wie damals als Schülerin, wenn sie sich wegen Unterleibsschmerzen vom Turnen dispensieren lassen wollte. Weniges war demütigender gewesen als die Nachfragen von Fräulein Bartel, wahrscheinlich aus lauter Bosheit und Neid auf die Frische der Mädchen. Bei ihr kamen Unterleibsschmerzen wohl seit Jahrzehnten nicht mehr vor.
»Was? Sprich lauter. Ich kann dich nicht verstehen!«
Wie sehr Luise das gehasst hatte!
Der Apparat summte. Fräulein Bartel nahm ab und lauschte, dann blickte sie herüber, sagte »Bitte« und wies auf die Tür zum Direktorat. Luise trat ein. Sie war auf ein neues Gesicht vorbereitet gewesen, nicht aber auf ein vertrautes.
»Herr Junge«, rief sie einigermaßen überrascht.
»Direktor Junge«, korrigierte Junge sie mit einem jovialen Lächeln. »Ich hatte mich schon gefreut, Sie wiederzusehen. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Er wies auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Er selbst hatte sich nur kurz aus seinem Sessel erhoben, ihr über den Schreibtisch die Hand
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