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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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entlangrollte. Sie vermisste das Fliegen mehr denn je.
    Tja, dachte sie, während sie durch die Vorstadt, doch bewusst nicht durch die Gegend fuhr, in der sie damals mit Georg an ihrem Flugzeug gebaut hatte, ohne Beruf werde ich mir nie ein Flugzeug leisten können. Und ohne Flugzeug werde ich meinen eigentlichen Beruf nie ausüben können. Sie hatte den Eindruck, dass die anderen die letzten Jahre, in denen sie geflogen war, immer nur als Episode, als Hobby-Horse sahen, das so ein modernes Girl eben hatte. Ein Vergnügen wie Polo oder Rudern. So eine Sache, die man in der Jugend machte, die man jedoch ablegte, wenn man erwachsen wurde. Sie verstanden nicht, was das Fliegen ihr bedeutete. Dass man nur beim Fliegen die wahre Freiheit erahnte, die man unten nie hatte. Am Anfang waren es nur die Zwänge des Studiums gewesen, die Sorge um ein Auskommen, aber in den letzten zwei Jahren waren die Nazis dazugekommen. Die Kontrollen an den Universitäten. Die Professoren, die plötzlich nicht mehr lehren durften. Die Bücher, die man nicht mehr lesen durfte. Und deutsche Studenten, die Bücher verbrannten. Das hatte sie am meisten schockiert. Sie kam aus einem Haushalt, in dem Bücher mit Respekt behandelt wurden. Und dann hatte sie gesehen, was man da auf dem Königsplatz verbrannt hatte. Fast jedes Buch stand auch in den Regalen in Papas Arbeitszimmer.
    Sie dachte sich in Rage, während sie ein kleines Stück auf der Hauptstraße fuhr, bis sie auf einen Wirtschaftsweg einbog, der sie zwischen Erl- und Schafweiher entlangführte, bevor der Anstieg durch den Wald kam. Und dann die Bemerkungen der Professoren, wenn sie Studentinnen im Hörsaal sahen: »Ich weiß gar nicht, was all die Fräuleins hier wollen …« Oder: »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als das deutsche Volk zu schwächen?« Oder sogar: »Die Verweigerung der Mutterschaft ist völkische Fahnenflucht.«
    Sie hatte selten größeren Blödsinn gehört als in diesen Vorlesungen. Sie konnte besser rechnen als die meisten ihrer Kommilitonen. Sie konnte einen BMW-Flugzeugmotor auseinanderbauen und wieder zusammensetzen. Und sie konnte ein Flugzeug fliegen. Und jetzt sollte sie nicht einmal Lehrerin werden dürfen, sondern Kinder kriegen!
    Sie war am Wald angelangt und fuhr bergan. Gleichmäßig trat sie, anders als früher, sie hatte gelernt, sich die Kraft einzuteilen. Ich bin stark, dachte sie grimmig, während sie Meter für Meter stieg, was für eine Verschwendung!
    Ihr Atem flog jetzt, aber sie konnte ihr Tempo halten. Vielleicht kam das vom Fliegen in großer Höhe, dachte sie flüchtig, sie war an dünnere Luft gewöhnt. Der Wald lichtete sich, je weiter sie aufstieg, und es wurde wieder heller, obwohl die Sonne schon sehr tief stand. Luise bog auf die schmale Straße ab, die zur Feste hoch über der Stadt führte. Es gab da einen Platz, den sie sehr mochte. Als sie am Tor ankam, das schon seit Jahrzehnten nicht mehr geschlossen worden war, musste sie absteigen, denn der Torweg war so steil, dass man das Fahrrad besser schob. Das brandenburgische Wappen leuchtete in der Abendsonne. Die Luft im Durchgang war viel kälter als draußen; es war, als hätten die Mauern noch den Winter gespeichert. Aber dann war sie schon auf dem Glacis. Der Kies knirschte unter ihren Reifen, während sie entlang der Innenmauer bis zum westlichen Eck der Anlage wanderte. Dort gab es eine schon etwas verwitterte Bank unter einer riesigen Linde, in der das helle Grün wirkte wie ein mit flüchtiger Hand zwischen die Zweige geworfener Schleier.
    Luise stellte ihr Rad an den Stamm, stieg auf die Bank und sprang von dort auf die meterbreite Mauer des Festungsvorbaus. Sie stand jetzt fast vierhundert Meter über dem Tal. Es war der einzige Ort, an dem sie die Stadt so sehen konnte wie damals, als sie das erste Mal geflogen war. Ob es an der Höhe lag oder ob sie mit dem Abend gekommen war, wusste man nicht, aber hier wehte eine kräftige Brise. Die Sonne hing knapp über dem weit entfernten Horizont, und die Abendwolken ­begannen zu brennen. Aus der Stadt stieg Rauch aus den Schloten und verwehte. Genauso verweht klangen die Abendglocken zu ihr herauf. Alles sah friedlich aus. Eine in sich geschlossene, heile Welt. Aber nur von hier oben.
    Luise blickte über das Tal und weit in die Ferne. Der Wind fuhr ihr unter die Jacke und spielte kühl um ihre Beine. Sie dachte, dass sie eigentlich nicht mehr dort unten leben wollte. Unten waren die Mauern. In den Köpfen und in den Gassen.

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