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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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sagt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dr. Mandl ist dem NS-Lehrerbund erst nach der dritten Aufforderung beigetreten. Aber geändert hat er sich nicht, und wir mussten ihn dann wieder ausschließen. So etwas hinterlässt Spuren, Fräulein Anding, so etwas vergessen wir nicht. Seine Haltung ist … sagen wir, sie ist nicht deutsch, wie wir das verstehen.«
    Luise nickte. Sie hatte verstanden. Und sie überlegte. Konnte sie Dr. Mandl dadurch in der Schule halten, dass sie auf die Stelle verzichtete, die man ihr anbot? Konnte sie es sich leisten, auf das Geld zu verzichten? Geld bedeutete Freiheit. Wenn sie nichts verdiente, würde sie hier festsitzen, immer fort und fort. Aber wenn sie hier zu Hause wohnte und Geld verdiente, dann konnte sie eben doch vielleicht irgendwann eine Maschine kaufen. Und wieder fliegen.
    »Es würde mich freuen, in meiner alten Schule wieder anzufangen«, sagte sie, aber ihre Stimme hörte sich für sie fremd und steif an. Junge war aufgesprungen. Es erweckte immer den Eindruck, als wollte er unbedingt jugendlich wirken. Luise fiel ein, dass sie gar nicht wusste, ob Junge verheiratet war.
    »Auf gute Zusammenarbeit!«, sagte er forsch, gab ihr die Hand und riss dann zum Abschied den Arm hoch.
    »Heil Hitler!«
    »Heil Hitler«, sagte Luise und verließ das Direktorat.
    Sie nahm die hintere Treppe, die auf den Pausenhof führte. Es war nicht der kürzeste Weg aus der Schule, aber so musste sie nicht an dem Klassenzimmer vorbei, in dem Dr. Mandl unterrichtete. Doch als sie aus der Schule auf den Hof trat, in dem die Bäume in voller Maienblüte standen und die Sonne schien, brannte ihr Gesicht trotzdem vor Scham, als hätte man sie beim Stehlen erwischt.

5

    Kam es ihr nur so vor oder sang Luana wirklich seltener als früher? Als Luise von ihrem Besuch in der Schule zurück zum Pfarrhaus ging, war es immer noch früher Vormittag, und in der Glockengasse war es so still, wie es in einer geschäftigen deutschen Kleinstadt eben zu dieser Stunde war. Aus den Gärten klang ab und zu das friedliche Gackern eines Huhns, was die Ruhe eher noch unterstrich. Hie und da vernahm man gedämpftes Klappern von Töpfen aus geöffneten Küchenfenstern, in der Ferne fuhr ein Zug vorbei, in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Luise hätte jetzt gerne Luana singen hören, dann wäre es ein bisschen so gewesen wie damals, als ihre Träume noch unerfüllt gewesen waren und sie oft von einer unsagbaren Sehnsucht so geschüttelt worden war, dass sie bis zur Erschöpfung rennen musste oder Rad fahren oder schwimmen. So lange, bis ihre Lungen brannten und sie vor Schwäche zitternde Knie hatte, aber diese brennende Leere nicht mehr spürte, die sie zu einem unbekannten Ziel trieb und die sie nicht ausfüllen konnte.
    Luise blieb stehen, lehnte sich an die Außenmauer des Gartens und sah durch das enge Gewirr von Dachvorsprüngen und Giebeln nach oben in das Blau über der Stadt. Damals hatte sich alles Sehnen aufs Fliegen gerichtet. Ohne dass sie ein einziges Mal geflogen war, hatte sich im Fliegen alles vereinigt, wonach sie sich zu sehnen glaubte. Fliegen – das stand für die große Freiheit und die Erfüllung, für die große Liebe und das große Abenteuer.
    Es waren eigentlich nur halbe Gedanken, nicht klar, nur Bruchstücke von Überlegungen, die Luise durch den Kopf gingen, während sie an der Mauer lehnte. Es war, als käme erst jetzt allmählich die Erkenntnis, dass sie in ihrem Leben an einem toten Punkt angelangt war.
    Plötzlich wurde ihr die Gasse zu eng, und sie ging eilig hinaus aus der Stadt in Richtung der Wiese, auf der sie damals mit Greben nach ihrem ersten Flug gelandet war. Das Gras stand schon hoch und streifte taunass ihre Knie. Hoch über ihr stiegen die Lerchen, es war Frühling. Alles lebte. Alles wuchs. Alles flog und sang. Nur sie selbst schien auf einmal zu schwer. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie wie eine Kugel in einer Schale ein paarmal von Rand zu Rand gelaufen – eine Illusion von Bewegung und Flug – und jetzt wäre sie ausgerollt. Als läge sie wieder am Ausgangspunkt in der Mitte der Schale, ohne noch einmal ohne fremde Hilfe in Bewegung kommen zu können.
    Sie strich ihren Rock glatt und setzte sich ins feuchte Gras. Sie dachte an Greben. Komisch – immer war es sein Nachname, mit dem sie an ihn dachte. Aber das war ja auch gewesen, was sie an ihm gemocht hatte. Das Militärisch-Schneidige, das Unbeschwerte. Dazu passte die forsche Anrede beim Nachnamen, wie es

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