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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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die Jungs in den Oberklassen taten, oder die jungen Studenten in den ersten Jahren.
    Greben hat mich in Bewegung versetzt, dachte sie und riss eine grüne Grasähre ab.
    »Das ist das fliegende Fräulein, von dem ich dir erzählt habe«, hatte er lachend gesagt und sie in München dem Fluglehrer vorgestellt, nur zwei Tage, nachdem sie angekommen war. Der Fluglehrer hieß Ritter von Schleich und hatte genauso ausgesehen wie die Flieger auf ihren Bildern. Groß und auch in der Fliegerkluft irgendwie militärisch. Obwohl der damals schon bei der Partei war, hatte er gar kein Aufhebens darum gemacht, ein Mädchen auszubilden, dachte sie immer noch mit ein wenig Verwunderung. Beim Arzt war es viel schlimmer gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine ärztliche Flugtauglichkeitsbescheinigung brauchte. Das war Deutschland, erinnerte sie sich mit bitterem Spott an den Arztbesuch. Der Arzt war eine Kanaille gewesen, ein vollkommener Idiot.
    Wie sich große Höhen auf ihre Gebärfähigkeit auswirken würden, das sei noch gar nicht erforscht! Als ob es im Gebirge keine Frauen gäbe, die ab und zu Kinder bekamen.
    Weshalb sie überhaupt fliegen wolle – das sei doch für die weibliche Mentalität ganz untypisch – und ob sie … also, ob sie öfters wie ein Mann denke oder fühle?
    Luise hatte sich gefragt, ob nur sie diese verklemmt lüsterne Neugier in seiner Frage hörte. Sie war schon ärgerlich gewesen, als sie ihm auseinandersetzen musste, dass sie eine ausgezeichnete Turnerin und Schwimmerin war. Aber als sie sich dann noch vor ihm ausziehen musste, damit er Lungen und Herz abhören konnte, was länger als bei jedem anderen Arzt dauerte, den sie kannte, da hatte sie sich gleichzeitig geschämt und vor Wut gezittert. Schließlich hatte er sie auf den nächsten Tag zur Folgeuntersuchung bestellt, und da war sie dann nicht hingegangen, sondern zu einem anderen Arzt, obwohl der seine Praxis in einem entlegenen Stadtteil hatte. Der aber war Ballonfahrer gewesen und hatte sie nach einer flüchtigen Untersuchung und einem langen, heiteren Gespräch übers Fliegen sofort tauglich geschrieben.
    »Fliegen Sie, Madl!«, hatte er jovial und in breitem Münchnerisch gesagt, »auf in den Äther!«

    Sie legte sich zurück ins Gras, obwohl der Tau durch ihren Rock und ihre Bluse drang. Aber auf diese Weise sah sie nur den Himmel. Die Bilder kamen, ohne dass sie die Augen schließen musste: die Wiese in Oberschleißheim mit den verschiedenen Flugzeugen. Eine Dornier war dabei, mit der Wolfgang von Gronau noch 1930 seinen Amerikaflug machte – ohne Erlaubnis der Luftfahrtbehörde, dachte sie lächelnd. Damals ging so was noch. Ihr Schulflugzeug. Eine Messerschmitt. Und dann der kleine Mann neben ihr im Kurs, den sie an den ersten Tagen überhaupt nicht erkannte, bis Greben dann nebenbei und halb im Spaß die Bemerkung fallen ließ, ob der kleine Rühmann ihm nicht etwa Konkurrenz mache. Erst da war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen: der UFA-Schauspieler Heinz Rühmann mit ihr in einem Kurs! Es war das erste und einzige Mal, dass sie jemand Berühmten kennenlernte.
    Sie hörte von der Stadt die Glocken elf Uhr schlagen. Erst die weichen Glocken der Kirche, dann die härter anschlagenden des Rathausturms. Der Himmel über ihr war weit und blau. Wenn man lange genug hineinsah, setzte das Gefühl ein , das sie schon als Kind nur so hatte beschreiben können, dass es war, als würde man allmählich nach oben fallen. Man durfte sich nicht bewegen, wenn es kam, dann fiel man immer weiter. So ähnlich war es gewesen, als sie das erste Mal einen Looping fliegen durfte. Sie hatte die ganze Nacht davor wach gelegen, einen Kochlöffel zwischen den Knien, den sie immer und immer wieder angezogen hatte, so vorsichtig, als sei er aus Porzellan, mit drei Fingern nur. Und dabei hatte sie dieses Gefühl zu erahnen versucht, wie es war, wenn man stieg, auf dem Rücken lag und dann fiel.
    »Fliegen Sie mir kein Ei!«, hatte von Schleich befohlen, und Luise war so aufgeregt gewesen wie bei ihrem allerersten Alleinflug. Es war schon tief im Herbst gewesen, ein klarer, sehr kalter Novembertag. Eigentlich hatte sie vor Aufregung schon gefroren, noch bevor sie überhaupt losgeflogen war. Der Propellersturm ließ ihre Augen tränen, dann zog der Flugplatzwart die Keile weg, und sie gab Gas. Dieser kleine Augenblick der Beschleunigung war eigentlich das Schönste am Fliegen. Wenn man die Kraft spürte, die einen ins Leder des harten Sitzes

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