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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Luise zurückgehalten wurde, erst da spürte Luise das erste Mal wirklich, was es bedeutete, hilflos zu sein. Eigentlich war ja fast alles, was sie erlebt hatte, ein wenig wie ein Spiel gewesen. Erstaunt merkte sie, dass sie bisher bei allem, was ihr zugestoßen war, doch im Stillen an eine gute Wendung geglaubt hatte, dass es sich irgendwie schon wieder richten ließe. Sie dachte an die Geschichte mit der Abschlussprüfung und Junge zurück: Da war ihr Vater da gewesen, der mit seiner ruhigen Art alles in Ordnung gebracht hatte. Oder damals, als sie unbedingt Fliegerin werden wollte: Paul und ihr Vater hatten dafür gesorgt, dass wie auf wunderbare Weise alles gut ging und sie wirklich fliegen lernen konnte. Paul hatte ihr die Karte geschenkt, sie hatte Greben kennengelernt, Papa hatte ihr erlaubt, nach München zu gehen. Aber jetzt?
    Luise war nach zwei Stunden erschöpfender Diskussion, die immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte, aus Luanas und Pauls Zimmer zurück in ihr eigenes gegangen. Sie hatte sich den General nach oben geholt, um nicht alleine zu sein, und nun lag der, unbeeindruckt von allem menschlichen Streit, auf dem Vorleger in ihrem Zimmer und schlief. Manchmal zuckten die Hinterläufe; vielleicht jagte er im Traum. Luise lag auf ihrem Bett, ganz gerade, die Hände auf dem Bauch übereinandergelegt, als könnte sie so ein wenig Wärme in sich behalten.
    Aber jetzt?, wiederholte sie für sich noch einmal und dachte daran, was Papa vorhin – war es wirklich erst wenige Stunden her? – im Arbeitszimmer so ruhig festgestellt hatte: Du hast deinen Glauben verloren.
    Ja, dachte sie, das stimmte. Aber es war nicht nur ihr Kinderglaube an Gott, sondern auch dieses grundlegende Urvertrauen, das sie immer gehabt hatte, diese Zuversicht, dass alles im Leben ein gutes Ende nehmen konnte, wenn man nur fest daran glaubte.
    Was sie wohl gerade mit ihm taten? Verhörten sie ihn? Durfte er schlafen? Und wo? Gingen die Polizisten eigentlich nicht nach Hause? Schliefen die nie? Luise schämte sich plötzlich für solche Gedanken, aber sie konnte das Karussell in ihrem Kopf nicht anhalten. Ob sie morgen wiederkamen und das Haus durchsuchten? Papas Bücher fielen ihr ein, der Spiritusumdrucker in der Remise. Und Georg! Ob Papa ihnen erzählte …? O Gott, dachte sie, wenn sie … wenn sie ihn schlugen, würde er dann nicht von Georg erzählen?
    Die Nacht in ihrem Zimmer war wie ein Kino, das sich mit Gespenstern füllte; ein erschreckender, kalter Gedanke jagte den nächsten, zog andere, noch hässlichere Schrecken mit sich, und alle lärmten in Luises Kopf durcheinander. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus und setzte sich auf. Sie musste etwas tun! Irgendetwas. Sie konnte nicht hier im Bett liegen, während ihr Vater irgendwo in einer Zelle saß.
    Sie stand auf und zog sich langsam an, während sie überlegte. Es hatte wenig Sinn, Papas Arbeitszimmer zu durchsuchen. Sie waren ja auch nicht gekommen, weil er Bücher im Regal hatte, die auf der Schwarzen Liste standen. Mein Gott – sogar in der Bibliothek gab es nach wie vor ein paar Tucholskys, die man noch nicht aussortiert hatte. Aber womöglich kamen sie ja auch wieder. Vielleicht gerade, wenn er nichts zu erzählen hatte – es gab ja nichts, was sie nicht wussten, und vielleicht glaubten sie ihm gerade das nicht. Es war auf jeden Fall besser, den Umdrucker aus der Remise verschwinden zu lassen. Und … ja, vielleicht musste sie Georg Bescheid sagen.
    Sie hatte, wie aus einer alten Gewohnheit heraus, die leichte Leinenhose, die Segeltuchschuhe und den dunklen Sweater angezogen – dieselben Sachen, in die sie früher immer geschlüpft war, wenn sie nachts das Haus verlassen hatte, um an ihrem Flugzeug zu bauen. Der General hob schnaufend ein wenig den mächtigen Schädel, als sie vorsichtig über ihn trat, aber dann schlief er weiter.
    Manchmal wäre es gut, wie ein Tier zu sein, ging es ihr flüchtig durch den Kopf, als sie geräuschlos die Treppe hinunterlief. Man wäre vielleicht glücklich oder unglücklich, aber man würde nie verstehen, woher es kam, und man hätte keine Angst, weil man nicht wusste, was einem alles passieren konnte.
    Vorsichtig klinkte sie die Hintertür auf und ging in den Garten. Immer wieder sah sie sich um, hatte das Gefühl, als würde sie beobachtet, aber es geschah nichts. Wenn das passierte, woran man eigentlich nicht glaubte, dann war man plötzlich in seinen Grundfesten erschüttert. Dann war plötzlich alles möglich:

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