Ein Lied über der Stadt
Konzentrationslager Sachsenburg gemacht haben?«
»Was?«, fragte Luise.
Ihr Vater nahm den Brief und klopfte mit dem Zeigefinger darauf. Eine Geste, die sonst immer komisch übertrieben auf sie gewirkt hatte, wie aus einer Bildergeschichte von Wilhelm Busch. »Der Posaunenchor ist vor die Tore des KZs gezogen und hat da gespielt. Für die Pfarrer dort. Um ihnen Mut zu machen.«
»Du kannst nicht Posaune spielen«, versuchte Luise zu scherzen.
Ihr Vater lächelte fast liebevoll, während er den Füllfederhalter aufschraubte, um zu unterschreiben. »Man darf nicht nachgeben, Luise. Man muss das Richtige sagen.«
Luise sah aus dem Fenster und dachte nach. Eine ganz leichte Brise bewegte sacht die Vorhänge. Die Schatten der Blätter auf der Terrasse sahen aus, als spielten sie Haschen.
»Für dich ist es leichter«, sagte sie sehr leise, »du glaubst. Du weißt, was richtig ist. Ich … ich habe eben Sorge um dich. Ich habe keinen anderen Vater.« Sie hatte das Ich betont. Auf einmal kam sie eine große Trauer an, dass sie nicht mehr glauben konnte, dass es in ihrer Welt keinen Gott mehr gab, der ihr Halt gegeben hätte. Sie hatte tatsächlich nur ihren Vater.
Sie schwiegen eine ganze Weile. Das leise Rascheln des Papiers, als es gefaltet und in den Umschlag gesteckt, das weiche Klacken, als er den Füllfederhalter auf den Tisch legte, das ruhige Atmen ihres Vaters waren die einzigen Geräusche, die neben dem allgegenwärtigen Frühlingsgesang der Vögel im Garten zu hören waren. Dann stand ihr Vater auf, den Brief in der Hand. Er trat nicht zu ihr ans Fenster, er wusste eigentlich immer, wann man Menschen nah kommen durfte und wann nicht.
»Du wirst sehen, Tochter«, sagte er dann, nannte sie nicht Luise, sondern benutzte das zärtliche Kosewort ihrer Kindheit, »du wirst sehen. Wenn es wirklich mal nötig ist, wirst du auch wissen, was richtig ist.«
Am späten Nachmittag traf sie auf ihrem Weg zum Laden zufällig Paul. Er kam aus dem Betrieb, seine schmale, braune Aktentasche hatte er an einer Ecke gefasst und schlenkerte sie beim Gehen. Er wirkte ungewöhnlich heiter, sah sie schon von Weitem, winkte ihr und nickte gleichzeitig dem dicken Apotheker zu, an dessen Schaufensterscheiben er eben vorbeiging. Sie wechselte die Straßenseite, und sie trafen sich an der Ecke des Kurzwarengeschäftes. Es war über den Tag heiß geworden. Der Pudel des Apothekers und die alte Dogge des Fleischers, die sich sonst nicht leiden konnten und oft über die Straße hinweg anbellten, lagen beide hechelnd im kurzen Schatten der Eingänge und knurrten nur müde. Ein Motorrad knatterte quer über den Marktplatz.
»Du bist ja so gut gelaunt!«, meinte Luise, als sie bei ihm angekommen war.
Paul hob die Schultern, als müsse er sich entschuldigen. »Es ist so ein schöner Tag, und ich konnte eher aus dem Büro weg.«
Luise hakte ihn unter. »Kommst du mit einkaufen?«
»Ich habe Zeit«, antwortete Paul verhalten vergnügt und ging zusammen mit ihr über die Straße. Es war heiß, der Himmel makellos blau, und die Stadt lag vollkommen friedlich da.
»Wie früher«, sagte Luise halblaut, als sie zusammen den schmalen Gehsteig entlangschlenderten, und Paul nickte kaum merklich.
Vor dem Wirtshaus stand ein großer Leiterwagen mit leeren Fässern und Bierkisten. Die braune Stute, die vorgespannt war, stand mit gesenktem Kopf in der Sonne und hatte einen Huf kokett auf die Spitze gestellt. Paul stieß Luise wortlos an und deutete mit dem Kopf nach dem Pferd. Luise sah, was Paul meinte, und lächelte: »Eine Ballerina!«
Paul lächelte auch. Er hatte das Jackett ausgezogen und über die Schultern gehängt. Die Hemdsärmel hatte er zweimal umgeschlagen. Luise fand, er sah Papa gerade sehr ähnlich, und eine Welle der Zuneigung stieg in ihr auf. Wieso war das so selten, dass man spürte, wie sehr man sich mochte? Sie ließ die Hand auf Pauls Unterarm noch ein wenig schwerer liegen und Paul, der diese kleine Bewegung wohl spürte, zog für einen Augenblick den Arm enger an den Leib. Geschwister, dachte Luise, wir sind wirklich Geschwister.
Vor dem Laden stand der alte Feinmann auf einer Kiste und schabte an einem Zettel herum, der an einem der Schaufenster klebte, die immer noch verrieten, dass das Kolonialwarengeschäft einmal eine Wohnung gewesen war.
»Grüß Gott, Herr Feinmann«, sagte Paul, als sie heran waren. Der Alte drehte sich auf seiner Kiste um und sah sie.
»Fräulein Luise«, sagte er erfreut und lächelte sie
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