Ein Lied über der Stadt
ohnehin schon war.
»Doch«, antwortete Luana nach einer kleinen Weile, in der sie schweigend nebeneinanderher gingen. »Manchmal schon.«
Von außen sieht die Stadt viel heller aus, wie eine Puppenstadt, dachte Luise. Die Pappelallee, die zum Stadttor führte, wirkte in ihrer Silhouette klar und streng, aber in den Blättern spielte der Abendwind und machte das Bild weich und ein wenig unscharf. Die Mauerkrone leuchtete im schräg einfallenden Licht, das Kalkweiß der Mauern war rosig überhaucht. Nur von innen war die Stadt dunkel und eng.
»Im Winter ist es mehr«, sagte Luana, »im Frühling aber nicht.«
»Ich würde so gerne einmal hinfliegen«, hing Luise einem alten Traum nach. »Einmal übers Meer fliegen. Nach Südamerika.«
»Hast du das Meer jetzt einmal gesehen?«, fragte Luana.
Luise nickte. »Die Ostsee. Und die Nordsee, einmal. Aber ich bin nie übers Meer geflogen. Und der Atlantik muss ganz anders sein. So weit!«
Sie gingen schweigend, jede in ihre Gedanken vertieft. Mit der Abendbrise kam der schwere, süße Geruch von Waldmeister vom nahen Birkenhain herübergeweht.
»Ich habe Heimweh nach der Weite«, sagte Luise schließlich sehr leise, »nach einer großen Weite ohne Ende.«
» Saudade «, nickte Luana. Sie sprach das zweite d weich, fast wie das »Sch«, das man zu müden Kindern sagt. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Das ist ein Gefühl, zu dem es bei uns viele Lieder gibt. Ganz viele heißen Saudade «.
»Sing eines«, bat Luise.
Luana schüttelte den Kopf. »Es ist dein Gefühl«, sagte sie leise lächelnd, »du musst es selber singen.«
Einen Augenblick lang war Luise versucht, es tatsächlich zu tun, aber dann dachte sie, dass es ja doch nie so schön sein würde, wie wenn Luana sang, und so gingen sie schweigend nach Hause.
11
Es war Juni geworden. Luise hatte einen Brief von der Schule erhalten, dass sie – vorbehaltlich einer Prüfung ihrer staatstreuen Gesinnung sowie ihrer Zeugnisse – zum 1. September eingestellt würde. Sie sollte sich freuen, dachte sie, als sie den Brief zurück auf den Esstisch legte, aber eigentlich fühlte sie sich nur schwerer und konnte das Bild nicht loswerden, dass sie einzuwurzeln begann. Und Bäume, dachte sie, können nicht fliegen.
Ihr Vater, der auch schweigend seine Post gelesen hatte, sah zu ihr auf und bemerkte wohl ihren Gesichtsausdruck. »Schlechte Nachrichten?«
Luise schüttelte den Kopf und verzog für einen Augenblick die Mundwinkel. »Nein. Sie nehmen mich an der Schule. Wenn ich mich als linientreue Nationalsozialistin erweise.«
Ihr Vater sah sie kurz an, dann wandte er sich wieder seinen eigenen Briefen zu.
Die Fenster standen offen. Die Vögel lärmten fröhlich im Garten. Es war ein lichter Frühsommertag, und Luise überlegte nicht zum ersten Mal, wie es sein konnte, dass die Welt um einen herum so unbeirrt klar und schön war, während man sich selbst verwirrt und wie gefangen fühlte. Als Kind hatte sie sich manchmal am Samstagmorgen auf den Schoß ihres Vaters gesetzt und mit ihm Zeitung gelesen. Seine Wärme und sein Geruch waren ihr noch immer gegenwärtig. Damals hatte sie einmal ein Bild in der Zeitung gesehen, das sie empört hatte. Italienische Bauern bei der Jagd , hieß die Überschrift, und man sah, wie große Netze über niedrige Bäume geworfen worden waren, in denen sich Hunderte von Singvögeln fingen, nun nicht mehr fortkonnten und verzweifelt in den Maschen flatterten.
Ihr Vater räusperte sich kurz. Sie drehte sich zu ihm. Er legte eben einen Bogen auf den Tisch und wies darauf. »Es gibt einen Aufruf, den ich unterstützen soll.«
Luise war alarmiert. Sie stand auf und kam zu ihm hinüber. »Was für ein Aufruf?«
Ihr Vater reichte ihr den Brief, und sie überflog ihn. Es war der Entwurf einer Protestnote des Reichsbundes Evangelischer Pfarrer an den Reichsinnenminister. Sie verlangte, dass die Pfarrer in den Konzentrationslagern angemessen behandelt werden sollten, dass ihre Verhaftungsgründe dargelegt würden und dass sie nicht wegen ihres Glaubens eingesperrt sein dürften. Die Note war in scharfem Ton gehalten. Luise reichte sie ihrem Vater zurück.
»Sie haben dich schon einmal vernommen, Papa«, sagte sie vorsichtig, »es ist … ich denke, du musst aufpassen.«
Ihr Vater sah zu ihr auf. »In Angst kann man nicht leben«, sagte er dann, »und wenn wir immer nur schweigen, geschieht gar nichts. Sieh mal«, er deutete auf einen anderen Brief, »weißt du, was sie vor dem
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