Ein Lied über der Stadt
an. Paul nickte er freundlich zu.
»Lassen Sie mich das machen«, sagte Paul, als er sah, wie der Mann auf der Kiste herumwackelte.
»Nein, nein!«, wehrte der hastig ab und streckte sich, wie um den Zettel zu verdecken.
»Herr Feinmann«, warnte Paul, »Sie werden fallen. Kommen Sie, lassen Sie mich das machen, und Sie geben inzwischen Luise, was sie braucht.«
Feinmann sah ihn einen Augenblick an, und Luise hatte den Eindruck, als schämte er sich, dann ließ er die Arme fallen und stieg von der Kiste. Erst jetzt konnten sie lesen, was dort auf dem Zettel stand: Wucherjude!
Der alte Feinmann sah ihre Blicke und hob fast entschuldigend die Schultern, als er sagte: »Was soll ich machen? Die Preise steigen überall.«
Er wandte sich direkt an Luise. »Sie kennen mich, Fräulein Luise, Sie wissen doch – man macht doch kaum ein Geschäft! Ich mache doch die Kaffeepreise auch nicht!«
Paul hatte sich wortlos das Küchenmesser genommen, das der Alte aufs Fensterbrett gelegt hatte, und stieg auf die Kiste. Luise ging mit Feinmann hinein. Im Dämmerlicht des Ladens war es angenehm kühl. Es roch nach Zimt und Rosinen, eigenartige Wintergerüche an so einem heißen Tag. Während der Alte den Kaffee abwog, sprach er immer weiter, entschuldigte sich wieder und wieder für den Preis des Kaffees, bis ihn Luise schließlich unterbrach.
»Ihre Preise sind nicht höher als anderswo, Herr Feinmann. Eher niedriger. Wer hat Ihnen den Zettel denn angeklebt?«
Feinmann faltete sorgfältig die Kaffeetüte zu.
»Man weiß es nicht«, antwortete er schließlich ausweichend, »junge Leute eben. Das geht vorbei. Ich weiß noch, wie Sie damals hier hinter der Theke standen«, wechselte er rasch das Thema, »es ist, als wäre es gestern gewesen. Wie sie alle gekommen sind, um die Pfarrerstochter zu sehen, die Bonbons verkauft!«
Er lächelte auf einmal nicht mehr verlegen, sondern froh.
Luise konnte nicht antworten, aber sie spürte, wie Mitleid und Zuneigung für den alten Mann sich mit einer großen Wut mischten, die in ihr aufstieg.
»Wollen Sie nicht allmählich zumachen?«, fragte sie schließlich, »Sie haben doch wirklich Ihr Leben lang gearbeitet. Wollen Sie nicht irgendwann Ihren Lebensabend genießen?«
Feinmann lachte, als er ihr den Kaffee herüberreichte und ihr trotz ihrer Gegenwehr eine Tafel Schokolade ins Einkaufsnetz steckte.
»Wo soll ich denn hin?«, fragte er mit seiner hellen Altherrenstimme und fast amüsiert. »Ich war mein ganzes Leben lang hier; den Laden hat doch der Vater schon gehabt. Das ist meine Stadt, Fräulein Luise.«
Er schüttelte den Kopf, und dann sagte er verschmitzt: »Na, und ich kann doch nicht zulassen, dass Sie dann bei der Konkurrenz kaufen. Solange Sie kommen, sperre ich nicht zu.«
Er begleitete sie nach draußen. Paul hatte den Zettel abgeschabt und gab Feinmann das Messer zurück. Erst als der Alte wieder in seinem Laden war, machte Paul eine kleine Kopfbewegung zur anderen Straßenseite, Luise folgte ihr und sah, dass dort drüben der Mesner stand und sie beobachtete.
»Er hat mir zugesehen, wie ich den Zettel abgekratzt habe«, sagte Paul voller Verachtung, »das ist ein Mann wie eine Ratte.«
Als sie die Straße in Richtung des Pfarrhauses gingen, sah Luise, wie der Mesner, noch immer auf Höhe des Kolonialwarengeschäfts stehend, aus seinem grauen Kittel ein Notizbüchlein holte und zu schreiben begann. Er gab sich keine Mühe, es zu verbergen, im Gegenteil: Es sah aus, als wollte er, dass Paul und Luise es sahen.
»Hast du keine Angst deswegen?«, fragte sie leise. »Du bist doch in der Partei.«
Paul machte ein abschätziges, trotziges Gesicht. »Die denken nicht von hier nach dort. Die können bloß froh sein, dass wir hier kaum Fremdenverkehr haben. In Garmisch hat die Partei sogar alle Judenplakate verboten. Wegen der reichen jüdischen Kurgäste und der Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele. Aber bei uns … als ob wir nicht genügend Probleme hätten! Ich verstehe sowieso nicht, was das mit den Juden immer soll.«
Luise sagte nichts. Paul dachte sachlich und politisch und vernünftig. Aber ihr ging es um etwas anderes. Sie drehte sich noch einmal um und sah, wie der Mesner fast regungslos auf der Straße stand und ihnen nachstarrte, und sie hatte das Gefühl, dass sie zum ersten Mal richtig verstand, was Paul vor Jahren so selbstverständlich über die Leute in dieser Stadt gesagt hatte. Weshalb sie Papa misstrauten, weshalb sie Luana nachsahen und
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