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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Kilometer entfernt, die Kirchenpflichten wahr. Die Gottesdienste fanden deshalb eine Stunde später statt. Luise hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, schon vorher im Kirchhof zu stehen und den Mesner zu beobachten, wenn er zur Kirche kam. Sie wusste nicht recht, weshalb sie das tat, aber sie wollte, dass er wusste: Sie beobachtete ihn. An einem dieser Sonntage sah sie auch Eva wieder, die sie seit der Sache damals nie mehr getroffen hatte. Sie hätte sie beinahe übersehen, obwohl sie mit ihrer Mutter zusammen zur Kirche ging. Eva trug ein Kopftuch, aber man sah, dass sie die offenen Haare, auf die sie früher so stolz gewesen war, zu ordentlichen deutschen Zöpfen geflochten hatte. An ihrer Hand gingen zwei kleine Kinder, ein Bub und ein Mädchen; das Mädchen mochte fünf Jahre alt sein, der Bub vielleicht drei. Luise stand wie gewohnt neben den breiten Stufen am Haupteingang, weil sie von dort sowohl die Sakristei als auch den Kirchplatz im Auge hatte. Der Bub stolperte vor den Stufen, fiel hin und schlug sich das Knie auf. Und Eva – Luise erkannte sie in dem Augenblick, als sie sich bückte – zog den weinenden Jungen grob hoch und dann, als er nicht zu weinen aufhörte, ohrfeigte sie ihn schnell und hart einmal links und einmal rechts. Der Kleine weinte kurz lauter, aber dann schluckte er stockend die Tränen hinunter. Als Eva Luise bemerkte, schlug sie die Augen nieder und beeilte sich, die Treppen zur Kirche hochzugehen. Luise wandte sich ab. Wie schnell das ging. Wie schnell wir uns ändern, dachte sie. Eva war so anders gewesen als ihr Vater. Für Eva hatte sie gekämpft, damals. Und jetzt war sie nicht anders als ihr Vater. Verschlagen waren sie alle, im Sinne des Wortes, verschlagen. Sie dachte an ihren eigenen Vater, wie er mit ihr geredet hatte, wenn sie etwas angestellt hatte. Im Amtszimmer, ernst und eindringlich und fast feierlich. Sie hatte immer ein wenig Angst vor diesen Gesprächen gehabt, aber er hatte sie nie geschlagen. Er hatte sie immer wie selbstverständlich so behandelt, als ob man ihr nur genau genug erklären müsste, warum etwas falsch war, und dann würde sie es nicht wieder tun. Natürlich nicht, denn sie wusste ja nun, was falsch und was richtig war. Wie ungewöhnlich diese Selbstverständlichkeit, dieses tiefe Vertrauen in Einsicht und Vernunft war, das merkte sie erst jetzt, da er fort war. Unwillkürlich hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. Über ihr schrillten die Mauersegler, und es war ihr, als könne sie nie wieder leicht genug sein, um zu fliegen.

    Es war an diesem Tag, dass Georg ins Pfarrhaus kam. Sie waren mit dem Mittagessen fertig geworden, und Luise half Luana eben mit dem Abwasch.
    »Geht es dir gut?«, fragte sie Luana mit Blick auf ihren allmählich wachsenden Bauch, und sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, als Luana das erste Mal seit Tagen lächelte.
    »Ja«, sagte Luana und legte für einen Augenblick die Hand auf die sanfte Wölbung, »dem Kind geht es gut.«
    »Habt ihr schon einen Namen?«, fragte Luise, froh über die Ablenkung.
    Luana schüttelte den Kopf. »Wir überlegen noch.«
    Sie spülte weiter die Teller und reichte sie dann Luise, die sie in das Abtropfgestell gab und dabei weiter das Besteck trocknete. Es lag ein kleiner Trost in diesen Alltagsaufgaben.
    »Wir möchten zurück«, sagte Luana nach einer Weile unvermittelt, »wenn dein Vater wieder da ist, wollen wir zurück.«
    Es war sehr warm in der Küche, obwohl die Fenster offen standen. Im Herd glühte es noch, das Abwaschwasser strahlte Wärme aus, und die Luft, die durch das Fenster hereinwehte, war juliheiß. Es dauerte eine Weile, bis Luise verstand.
    »Nach Brasilien?«, fragte sie überrascht. »Ihr wollt wieder nach Brasilien?«
    Luana ließ einen Teller zurück ins Wasser gleiten und drehte sich zu Luise. »Paul wollte … er wollte euch auch fragen«, sagte Luana dann leise, »dich und Gottfried. Ob ihr mitkommt.«
    Luise sah Luana an. Es war ihr nie in den Sinn gekommen wegzugehen. Nie. Sie war hier zu Hause. Dann dachte sie daran, dass Luana vielleicht auch nie hatte weggehen wollen, aber dass sie hier jetzt trotzdem zu Hause war. Weggehen? Für immer?
    In diesem Augenblick klingelte es. Beide richteten sich hastig auf. Immer zuckten sie jetzt zusammen, wenn es zu ungewöhnlichen Zeiten an der Tür läutete.
    »Ich gehe schon«, sagte Luise, nachdem sie einen schnellen Blick gewechselt hatten. Sie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. Als sie an dem

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