Ein Lord mit besten Absichten
vielleicht wird sogar einmal eine Zofe aus dir? Würde dir das gefallen? Ja, natürlich würde es das. Du sprichst nicht zufällig Französisch, oder? Ist nicht schlimm; nimm meine Hand, Schätzchen. Lord Weston wird uns irgendwohin fahren, wo du etwas essen kannst, und dann bringt er uns nach Hause und du kannst ein Bad nehmen und …«
Weston hob an zu protestieren, wurde jedoch jäh unterbrochen, als sich das Kind mit einem kurzen Fluch die Münze aus Gillians Hand schnappte, losflitzte und in der Menge untertauchte.
Sie beobachtete, wie das Kind verschwand, dann klappte sie den Mund hörbar zu und wandte sich zum Earl um. »Sagen Sie nichts.«
Einen Moment lang sah er so aus, als nähme er ihr die Anweisung übel, dann aber reichte er ihr wortlos die Hand und führte sie zur Kutsche zurück.
Eine Stunde später, als er ihr vor dem Haus ihres Onkels beim Aussteigen half, ließ der Anblick seines kalten, wie zu Eis erstarrten Gesichts sie erschaudern. Ein Mann, der wie er während eines Ausflugs so viele Prüfungen zu bestehen hatte, sollte doch wenigstens eine Emotion zeigen – vielleicht Ärger wegen der Szene mit dem Gossenkind oder Wut, dass sie ihn mit aller Macht zu überzeugen versucht hatte, dass sie – dem Stand der Sonne und der Windrichtung nach – in die falsche Richtung führen. Und schließlich war da noch der schmerzhafte Zwischenfall mit seinen Pferden … Aber nein, besser, sie vergaßen das Ganze. Lord von Granit hielt ihre Hand ein paar Sekunden länger als geziemend fest, und als sie ihm in die Augen schaute, verschmolzen ihre Blicke.
Jegliche Gedanken stoben aus ihrem Kopf, außer jenen an den Mann vor ihr. Er hob langsam ihre Hand an seine Lippen. Erschrocken über diese Berührung musste Gillian schlucken, und sie suchte nach einem Weg, sich für den katastrophalen Ausflug zu entschuldigen, war unter dem durchdringenden Blick seiner silbergrauen Augen jedoch nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen.
»Morgen, Madam.« Nach einer Verbeugung drehte er sich um und ging. Gillian schwebte die Stufen hinauf und durch die geöffnete Tür mit einem knappen Gruß an dem Lakaien vorbei.
Morgen? Was meinte er wohl damit?
»Was meint er nur damit?«, fragte Gillian drei Stunden später, als sie auf dem Bauch und mit in die Höhe gestreckten Füßen auf Charlottes Bett lag und zusah, wie die Zofe ihrer Cousine Löckchen in die üppige blonde Haarpracht zauberte.
»Um Himmels willen, Gillian, was bist du nur für ein Esel! Ich kann kaum glauben, dass du sieben Jahre älter bist als ich. Er macht dir natürlich den Hof. Genau so, wie ihn der gefährliche Raoul Beatrice in
Das Schloss von Almeria
macht.«
Gillian zupfte mit nachdenklicher Miene an der weichen Stola, die vor ihr lag. »War das der Roman, der damit beginnt, dass die Heldin voller Blut ist und glaubt, sie hätte ihren Vater ermordet, als der sie vergewaltigen wollte, und der dann später dieser liebenswürdige Vegetarier zu Hilfe kommt?«
»Nein, das war in
Louisa
oder
Das Cottage im Moor
.«
Gillian tippte sich mit ausgestrecktem Finger an die Unterlippe. »Ist das der Roman, in dem die Heldin sich gegen Wölfe und plündernde fremde Männer wehren muss, nachdem sie von den finsteren Mannen ihres Vaters entführt und in einem französischen Schloss fast geschändet wurde?«
Charlotte zog kurz die Stirn kraus, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das war in
Waldromanze
.«
»Dann muss es der sein, in dem die Heldin den fiesen Lord erwürgt, der ihre Keuschheit zu besudeln versucht, und wo die durchtriebene Schurkin wegen ihrer Wollust für alles, was Hosen trägt, eine unaussprechliche Krankheit bekommt.«
»Ja, das ist
Almeria
, obwohl ich nicht begreife, warum Madam de la Rouge so als die Böse hingestellt wurde. Ich konnte ihre Faszination für den Grafen gut verstehen. Und für den blonden Lakaien. Und natürlich für diesen Schurken von einem Gärtner. Dennoch, wie ich schon sagte, Lord Weston ist ganz klar aus demselben romantischen Stoff wie Raoul. Genauso wie Raoul gegen Entführer, Piraten und die boshaften, Branntwein liebenden Mönche von Clermont kämpfte, um bei seiner wahren Liebe zu sein, würde Lord Weston um dich kämpfen, da bin ich mir sicher.«
Gillian verdrehte die Augen und prustete auf wenig damenhafte Weise. »Oh ja, wieso habe ich das nicht gemerkt? Natürlich, das ergibt alles einen Sinn. Hier ist ein Mann – wohlhabend, äußerst attraktiv, auch wenn man ihn für einen Mörder
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