Ein Lord mit besten Absichten
an ihr zu entdecken. Sie war geistreich und amüsant und besaß zugleich eine Sanftheit und Würde, die …
»Anhalten!«, schrie sie ihm ins Ohr und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Dann packte sie ihn am Arm, sprang über seine Beine hinweg und schwang sich aus dem Phaeton.
Herr im Himmel, sie würde sich umbringen, wenn sie wie ein Hase im Zickzack über die vielbefahrene Straße hüpfte! Mit einem leisen Fluch warf Weston seinem Pagen die Zügel zu und sprang seiner Zukünftigen hinterher, ehe sie noch unter die Räder geriet.
Als er sie endlich eingeholt hatte, zitterte er, ob aus Wut oder Angst vermochte er nicht zu sagen. Er nahm an, dass es eine Mischung aus beidem war, und er ballte immer wieder die Fäuste, um sich nicht hinreißen zu lassen, sie auf der Stelle zu erwürgen. Um sich zu beruhigen, holte er tief Luft, wischte sich mit dem Taschentuch über die von einer leichten Feuchtigkeit überzogene Stirn und rief sich in Erinnerung, dass er eigentlich ein besonnener, gelassener Mann war. Ein Mann, der seine Gefühle stets unter Kontrolle hatte, und er wollte verdammt sein, wenn er dieser übergeschnappten Amazone gestattete, ihn eines Besseren zu belehren.
»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, mal eben aus der Kutsche zu springen, Madam?«, brüllte er sie an. »Haben Sie denn gar keinen Verstand? Sie hätten umkommen können!«
Gillian, die sich neben ein lumpiges Straßenkind auf den Bürgersteig gehockt hatte, blickte finster zu ihm hoch. »Still, Mylord. Sie machen dem Kind ja Angst.«
Weston konnte es nicht fassen. Hatte sie ihm etwa gerade den Mund verboten? Er schüttelte den Kopf. Niemand, nicht einmal eine offensichtlich so gestörte Frau wie Gillian, wäre so töricht.
»Miss Leigh«, knirschte er und versuchte verzweifelt, den in seinem Innern brodelnden Vulkan am Ausbrechen zu hindern. Ihr unüberlegtes Handeln hatte ihn zehn Jahre seines Lebens gekostet. »Wären Sie bitte so freundlich, mir zu erklären, warum Sie es für angebracht hielten, sich aus der Kutsche zu stürzen und wie eine Lebensmüde quer über die Straße zu rennen?«
Gillian sprach sanft mit einem kleinen, äußerst verdreckten Gossenkind. Weston nahm an, dass es sich um ein Mädchen handelte, aber das auch nur, weil das Kind einen mitleiderregenden Bund welkender Veilchen in der schmutzigen Faust hielt.
»Mylord, Sie sehen doch, dass dieses arme Kind in Not ist und unserer Fürsorge bedarf.«
Unter einem Vorhang glanzloser Haare lugten zwei sanfte braune Augen hervor. Das Balg besaß die Frechheit, ihn anzugrinsen, während es sich enger an Gillian kuschelte.
Weston zählte bis zehn, ehe er die zu seinen Füßen kniende Frau ansprach. »Ich weiß die Tatsache, dass Sie ein freundliches und mitfühlendes Wesen besitzen, durchaus zu schätzen, Miss Leigh, doch jetzt ist kaum der richtige Zeitpunkt, mich mit Ihren guten Taten zu beeindrucken. Sie hätten getö…«
»Sie mit meinen guten Taten zu beeindrucken, Mylord?«
Hätte Weston es nicht besser gewusst, so hätte er geglaubt, das Glitzern in den Augen der Frau, die sich langsam vor ihm erhob, wäre ein Ausdruck ihres Zorns. Er nickte und gestikulierte in Richtung des Kindes, dessen Blick gierig an der Uhrenkette des Earls klebte. »Offensichtlich streben Sie nach meiner Anerkennung und wollen mir Ihre Sorge um weniger Begünstigte demonstrieren, doch das ist nicht notwendig.«
Gillian starrte ihn mit offenem Mund an. Allmächtiger, die Arroganz dieses Mannes war doch wirklich nicht zu fassen! Ihn zu beeindrucken, gewiss doch! Hätte er sie nicht so gewaltig verwirrt, indem er direkt vor ihr stand und von Kopf bis Fuß das Bild des charmanten Lebemannes abgab, für den sie ihn hielt, dann hätte sie ihm jetzt gründlich die Meinung gesagt. Das heißt, soweit sie noch dazu imstande gewesen wäre. Ein Zupfen an ihrem Ärmel jedoch erinnerte sie an ihre Pflicht.
»Eine Münze bitte, Mylord.«
»Eine Münze?« Weston starrte mit krausgezogener Stirn ihre ausgestreckte Hand an.
»Ja, eine Münze für das Kind.«
Ihre Bitte kam so überraschend, dass er ihr die Münze ohne zu zögern gab. Sie hockte sich wieder hin. »Na, na, meine Kleine, mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum, dass du nie mehr auf der Straße leben musst, in Kälte und Hunger und mit Fremden, die dir Böses wollen. Ich bin sicher, meine Tante und mein Onkel werden dich aufnehmen und für dein Wohlergehen sorgen. Natürlich wirst du eine gute Erziehung genießen …
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