Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
hatten kollektiv beschlossen, es zu schaffen. Und das setzten sie dann auch in die Tat um. Dennoch ließ die Geschwindigkeit zu wünschen übrig. Ich wollte niemanden zu laut zur Eile antreiben. Das Band zwischen mir als Anführer und ihnen als meinen Gefolgsleuten war extrem brüchig, vielleicht sogar völlig illusionär. Was würde passieren, wenn ich diese Menschen, denen ich – ich! – gerade die Heimat genommen hatte, allzu sehr provozierte?
Ich musste behutsam vorgehen. Das war ich, ehrlich gesagt, nicht gewöhnt.
An der Wegkreuzung erwartete uns Selur mit seinen Männern. Er hatte nur wenige Packpferde dabei, aber immerhin war dies eine gute Gelegenheit, sich auszuruhen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Selur war aufgebrochen, nachdem ein Reiter ihm meinen Brief überreicht hatte. Estibar war ihm sozusagen auf halbem Wege begegnet. Selur hatte daraufhin einen Boten zurück in die Stadt geschickt und war sich sicher, dass mittlerweile eine Karawane von Eselskarren aus Tulivar unterwegs war, um die Flüchtlinge aufzugabeln und in die halb leer stehende Stadt zu bringen. Tulivar würde die Neuankömmlinge gut verkraften können. Ich befahl Woldan, mit einigen Männern bei den rastenden Flüchtlingen zu bleiben. Sie würden jagen und nach Wasser suchen, aber nicht mehr marschieren. Sie würden warten, bis die Karren ankamen. Ich war zuversichtlich, dass es alle unverletzt nach Tulivar schaffen würden.
Ich befahl Selur, zwei Späher in Richtung Norden zu entsenden. Sie würden unsere Auswanderer warnen, sollten sich die Bergkrieger doch hierher trauen, um uns verspätet nachzusetzen. Tatsächlich ging ich nicht davon aus, den Hetman so bald wiederzusehen. Ich hegte eine ganz andere Befürchtung, und es war mein Bestreben, mit dem Großteil der Männer so schnell wie möglich zur Hauptstadt meines kleinen Reiches zurückzukehren. Die Bewohner Felsdoms nahmen meinen Abschied ruhig entgegen. Ich glaube, sie wussten derzeit noch nicht, was sie eigentlich von mir zu halten hatten. Auf der einen Seite wirkten sie erfreut, dass sich überhaupt einmal jemand um ihr Schicksal sorgte, auf der anderen Seite schienen sie mir ein wenig dafür die Schuld zu geben, dass sie ihre Heimat aufgeben mussten. Ich verzichtete darauf, mit ihnen über den wahren Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu diskutieren. Der Anblick meiner 30 Krieger schien sie aber davon zu überzeugen, dass sie zumindest vorerst in Tulivar besser aufgehoben waren. Die durchaus überzeugende Art, wie wir in der Höhle gegen die Bergkrieger gekämpft hatten, tat sicher das Übrige zur Stärkung dieser Einstellung. Ich war vielleicht noch nicht in der Position, für sie ein »richtiger« Baron und Herr zu sein, aber immerhin ahnten sie, dass meine Entscheidung, Felsdom erst einmal aufzugeben, nichts mit Feigheit zu tun hatte.
Ich hoffte, dass sie alle mit der Zeit verstehen würden. Die Frauen schienen eher bereit zu sein, sich mit dem Ortswechsel abzufinden, als die Männer. Sie hatten sich während der wiederholten Angriffe aus dem Nordgebirge immer besonders um ihre Kinder Sorgen gemacht. Es war ihnen anzusehen, dass sie erleichtert waren und ihre manchmal murrenden Männer mitzogen. Es fehlte aber auch ihnen an echtem Enthusiasmus.
Den suchte ich allerdings auch bei mir vergeblich.
Dafür machte ich mir zu viele Sorgen. Wenn die Vermutung stimmte und die ganze Aktion vor allem dazu dienen sollte, mich möglichst lange von Tulivar fortzulocken, dann war etwas im Gange, dem sich möglicherweise nur durch meine zeitige Rückkehr begegnen ließ. Und so strebte ich rasch zurück zu meinem Amtssitz. Nebenher war es mir wichtig, Vorbereitungen für die Aufnahme der Flüchtlinge zu treffen. Angesichts der eigenbrötlerischen Grundhaltung meiner treuen Untertanen erschien mir dies als eine nicht geringe Herausforderung.
Wir ritten los und unsere Pferde zwar nicht zu Tode, aber ich möchte annehmen, dass Mensch und Tier gleichermaßen erfreut waren, wieder gut in Tulivar angekommen zu sein. Als der Kastellan mir zudem berichtete, dass er in weiser Voraussicht und in Kooperation mit dem Bürgermeister bereits Vorbereitungen für den Empfang der Flüchtlinge getroffen habe, besserte sich meine Laune zusehends.
Leider hielt dies nicht lange vor. An einem frühen Morgen – ich war kaum meiner Schlafstatt entklettert – ritt eine einsame Gestalt auf den Turm zu. Die Morgenwache machte mich auf den Besucher aufmerksam, und ich ging, ihn zu begrüßen. Die
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