Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
entschlossene Dorfbewohner. Wenn er wirklich etwas Grips hat, wird er nach seinem Hetman schicken und hoffen, dass sie alle zusammen etwas ausrichten können.«
»Tatsächlich glaube ich, dass gar nichts passieren wird«, murmelte Woldan. »Die werden uns nicht verfolgen. Die haben, was sie wollen. Der Aufwand lohnt nicht.«
Ich dachte über Woldans Worte nach, als wir rückwärts gehend langsam weiter zum Ende des Felsganges vordrangen. Hin und wieder machten wir eine Pause und lauschten in die Dunkelheit, doch es schien, als habe Woldan mit seiner Vermutung nicht falsch gelegen. Die Verfolger waren uns nicht auf den Fersen. Wir entspannten uns und wagten es schließlich sogar, uns umzudrehen und dem fernen Lichtschimmer entgegenzueilen, der nun sichtbar geworden war. Die Flüchtlinge hatten einige der Lampen und Fackeln mitgenommen, und es war vereinbart worden, kurz vor dem Zugang zur Freiheit ein Licht leuchten zu lassen, damit wir erkannten, dass der Weg ein Ende gefunden hatte.
Wenn unsere Häscher zu dem Schluss kommen würden, uns nicht zu verfolgen, überlegte ich, dann bedeutete das für uns, dass jede Hilfeaktion aus Tulivar zwar nicht sinnlos, aber potenziell gefährlich sein würde. Denn wenn all dies darauf gerichtet war, mich zu stürzen oder anderweitig dauerhaft außer Gefecht zu setzen, dann würde …
… dann würden 30 Soldaten mehr oder weniger in Tulivar auch nichts ausrichten, belehrte ich mich selbst.
Ich verscheuchte die Gedanken. Frische Nachtluft drang an meine Nase. Ich kletterte als Letzter ins Freie und sah in die Runde. Die Flüchtlinge hatten sich im Halbkreis um die Öffnung niedergesetzt. Kinder weinten. Ihre Stimmen trugen weit.
Ich hatte keine Wahl.
»Auf!«, sagte ich. »Wir müssen marschieren, jetzt gleich. Woldan, du übernimmst die Spitze. Lorkos und ich machen die Nachhut. Tobald, schau, dass unsere Truppe zusammenbleibt.«
Tobald, der nach Estibar zu den ausdauerndsten Läufern in meiner kleinen Armee gehörte, nickte nur. Was sie jetzt gar nicht gebrauchen konnten, waren Leute, die vom Weg abwichen.
»Aber Herr!«, begehrte ein Mann auf. »Wir müssen nach Felsdom!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, wir gehen nach Tulivar!«
»Aber …«
»Nein.« Ich seufzte, bedeutete allen, noch einmal anzuhalten. Ich fühlte, wie sich erwartungsvolle Blicke auf mich richteten. Ich holte tief Luft.
»Wir geben Felsdom auf!«, sprach ich das Unausweichliche.
Gemurmel erklang. Ich hob die Hand.
»Ich habe keine Armee. Ich kann Felsdom nicht befestigen. Unsere Bevölkerung ist klein. Es gibt keinen Schutz gegen die wiederholten Angriffe der Bergvölker. Bis ich eine Lösung für dieses Problem gefunden habe, siedelt ihr alle nach Tulivar um.«
Leise Proteste wurden laut. Ich ignorierte sie.
»Es gibt viele leere Gehöfte und das Land ist fruchtbarer. Tulivar ist kein schlechter Ort. Ihr werdet euch gut einrichten können. Und ihr werdet besseren Schutz erhalten. Die Bergvölker werden es sich zweimal überlegen, so weit in den Süden vorzudringen, zumindest vorerst.«
»Ich weigere mich!«, sagte ein Mann. »Ich kehre nach Felsdom zurück!«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut.
»Das ist in Ordnung!«, erwiderte ich zur allgemeinen Überraschung. »Wer auch immer zurückkehren will, soll es tun. Aber er muss es allein tun. Er wird keinen Schutz bekommen. Ich werde erst wieder nach Felsdom zurückkehren, wenn ich es auch verteidigen kann. Und ich weiß nicht, wann das sein wird. Vielleicht nie. Sicher nicht bald.«
Die Leute waren müde und entmutigt. Viele waren zermürbt. Viele wandten sich ab, in Richtung des abwartend dastehenden Woldan, der dies zum Anlass nahm, langsam loszuspazieren. Dann, wie erwartet, begannen sich alle zu bewegen, alle in Richtung Tulivar.
Niemand wollte in dieser Nacht allein bleiben.
11 Besuch in Tulivar
Niemand verfolgte uns.
Ich war beinahe enttäuscht.
Beinahe.
An der Wegkreuzung kamen wir erst nach gut vier Tagen an. Die erste Nacht waren wir marschiert. Dann hatten wir Vorräte verteilt und einige Männer waren auf die Jagd gegangen. Wir fingen ein Dutzend Hasen und fanden eine Wasserquelle. Jeder bekam etwas zu essen, wenngleich nicht allzu viel. Doch die Kinder wurden richtig satt, dafür wurde gesorgt. Dann setzte eine gewisse Routine ein. Marschieren, rasten, jagen, essen, schlafen, marschieren. Es war kräftezehrend, aber niemand gab auf. Ich begann, die Halsstarrigkeit dieser Menschen zu bewundern. Sie
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