Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
erklärte Selur sicher und wies in die Dunkelheit, etwas ab vom Weg nach Tulivar, hinaus auf die angrenzenden Felder, deren Demarkationen man aufgrund der Schneedecke nicht mehr erkennen konnte.
Wir standen wieder einen Moment still da. Einer meiner Männer, Brocius mit Namen, gesellte sich zu uns. Als der Laut erneut ertönte, sahen wir drei uns an und nickten.
»Das ist keine Katze«, erklärte Brocius im Brustton der Überzeugung. »Meine Tante hatte ein Dutzend der Plagegeister und sie haben uns die Nächte zur Hölle gemacht, wenn wir zu Besuch waren. Das war definitiv keine.«
»Ein Mensch?«, fragte ich. Ich erkannte die Unsicherheit in den Blicken der Männer.
Ich gab mir einen Ruck.
»Brocius, du kommst mit mir! Hole zwei Fackeln! Wir sehen uns die Sache an.«
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Hauptmann?«, fragte Selur mit besorgtem Unterton – etwas für ihn eher Uncharakteristisches.
»Nein, bin ich nicht. Aber wenn dort jemand in Not ist und wir ihn nur deswegen verrecken lassen, weil wir uns nicht sicher waren, bereitet mir das auch keine Freude«, gab ich zurück.
Selur presste die Lippen aufeinander.
Brocius kam mit zwei fachmännisch hergestellten Fackeln wieder. Sie würden gut eine halbe Stunde brennen. Er hatte auch Ersatzfackeln eingepackt und sah mich erwartungsvoll an.
Selur nahm ihm die Fackeln ab.
»Ich gehe. Brocius, du hast die Wache!«
Der Mann zuckte mit den Schultern. Ich grinste Selur an. Offenbar hatte ich den Guten bei seiner Ehre erwischt. Es war mir nur recht. Mit Selur an meiner Seite war ich bereit, einem ganzen Rudel frierender Katzen entgegenzutreten.
Wenige Augenblicke später wurde uns das Tor geöffnet und wir stapften in den Schnee. An einigen Stellen lag dieser kniehoch. Glücklicherweise wussten die Bewohner Tulivars, wie man sich trotzdem in diesen Bedingungen fortbewegte: Man schnallte sorgfältig geflochtene, wie breite Bretter aussehende Gebilde an die Stiefel. Obgleich man damit komische Schritte tat und auch nicht sonderlich schnell vorankam, verhinderte man ein Einsinken und damit auch nasse Beinkleider sowie Erfrierungen.
So staksten wir auf die weiße Ebene hinaus, hielten nur einmal kurz inne, um zu lauschen, hörten den klagenden Laut ein weiteres Mal und orientierten uns entsprechend. Das Flackern des Feuers wurde von der fast ununterbrochenen Schneedecke reflektiert und die Sicht war gut. Auf der Mauer hinter uns stand Brocius und verfolgte unsere Fortschritte. Er würde Hilfe schicken, wenn sich etwas unvorhergesehen Negatives ereignen sollte.
Und so entfernten wir uns vom Kastell. Die Klagelaute wiesen uns den Weg, und es schien fast, als würden sie dringlicher oder verzweifelter werden. Bald sahen wir die schimmernden Lampen und Fackeln unserer Heimstatt nur noch trübe in der Ferne. Wir hatten uns sicher schon zwei Kilometer vom Turm entfernt, als wir auf etwas trafen.
Erst einmal konnte ich mit dem, was da unter einem umgestürzten Baum lag, der die Schneemassen nicht mehr hatte halten können, wenig anfangen. Von der Ferne erkannten wir bereits, dass sich dort etwas bewegte. Als wir näher kamen, wies ich der Theorie mit dem verletzten Menschen größere Wahrscheinlichkeit zu – das Klagen klang in der Tat wie ein menschlicher Wehlaut und die Gestalt unter dem Baumstamm war offensichtlich kein Tier, denn sie streckte Arme zur Seite, um sie dann wieder gegen das Holz zu pressen.
Wir versuchten, unsere Schritte zu beschleunigen, das war mit den Schneeschuhen aber nahezu unmöglich. Selur rief etwas Beruhigendes in Richtung des Baums, jedoch bekamen wir als Antwort nur einen weiteren dieser Klagelaute. Das brachte die Theorie wieder ins Wanken. Etwas stimmte nicht. Ich griff an meine Seite, an der ich meine Klinge trug, und prüfte, ob sie locker genug in der Scheide saß, sodass ich sie schnell ziehen konnte. Da ich sie täglich pflegte und einölte, glitt sie bereits bei leichter Berührung nach oben. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass auch Selur diese instinktive Geste vollführte. Er traute dem Braten gleichfalls nicht.
Wir kamen an.
Die Gestalt, ein Bein unter dem Baumstamm, war auf den allerersten Blick menschlich, zumindest insofern, als sie zwei Beine und zwei Arme sowie einen Kopf aufwies. Ansonsten aber trug sie am ganzen Körper ein helles Fell und die Kopfform erinnerte mehr an einen Wolf als an einen Menschen. Auf den zweiten Blick fiel auch der Vergleich zum Wolf nicht mehr so überzeugend aus. Ich
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