Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
Unannehmlichkeiten führte. Aber das ist viele Jahre her.«
Neja nickte. »Das ist leider so und gilt für den größten Teil der Welt. Die Vorherrschaft der Menschen hat dazu geführt, dass die Landmagie schwindet, und das seit Jahrhunderten. Mit jeder neu errichteten Straße, jeder Flussbegradigung, jedem neuen Kanal formt ihr die Welt neu, und unser Einfluss schwindet.«
Mir wurde dabei klar, dass ich exakt dies vor Kurzem in Angriff genommen hatte und dass dies möglicherweise der Grund war, aus dem Neja mit mir sprechen wollte. Dass unser Zusammentreffen ein Zufall war, daran glaubte ich jetzt schon keine Sekunde mehr.
Neja schien meine Gedanken zu erraten, denn sie sah mich direkt an und verzog ihr Gesicht zur Karikatur eines menschlichen Lächelns.
»Keine Sorge, Baron. Die Straßen Tulivars wurden fast alle auf alten Wildwegen errichtet. Sie neu zu pflastern oder mit Steinschrot aufzufüllen, tut uns nicht weh.«
Ich nickte nur.
»Es ist aber tatsächlich so«, fuhr sie fort, »dass Landmagie nur noch in eher entlegenen Gebieten mächtig ist, und selbst dort halten sich jene, die sie repräsentieren, gemeinhin eher zurück, da die Menschen vor langer Zeit verlernt haben, richtig damit umzugehen. Die meisten der alten Rituale sind verloren gegangen. Nicht einmal wir erinnern uns an alle. Der große Krieg hat dann alles noch viel schlimmer gemacht. Dort wurde Magie vor allem zerstörerisch eingesetzt. Das hat zu großem Misstrauen geführt, ja auch zur Angst. Wir mussten sehr, sehr vorsichtig sein.«
Neja sah mich erneut direkt an. »Aber es scheint, als sei der neue Baron nicht völlig Opfer seiner aggressiven Emotionen. Auch sein Misstrauen ist eher gesunder Natur. Tatsächlich würde ich ihn manchmal als etwas naiv bezeichnen.«
Ich neigte den Kopf, um mich für die freundliche Einschätzung zu bedanken, und ignorierte das hämische Grinsen Selurs, des Fruchtbaren. Dem würde in Bälde das Grinsen noch vergehen, erinnerte ich mich selbst. Der Blick, den ich ihm zuwarf, musste diese Botschaft transportiert haben, denn die Schadenfreude schwand aus Selurs Gesicht, ganz wie fortgewischt.
»Aber der Baron hat mir geholfen und mich nicht einfach abgestochen«, ergänzte Neja. »Es besteht also Hoffnung.«
»Hoffnung worauf?«, fragte ich.
Neja antwortete nicht sofort. Sie blickte auf das Kaminfeuer, als halte sie innere Zwiesprache. Da sie von sich behauptete, die Sprecherin des »Landes« zu sein, was auch immer das genau bedeutete, war es möglicherweise mehr als nur Kontemplation. Möglicherweise sprach sie tatsächlich mit jemandem. Oder mehreren.
Ich nahm einen Schluck Tee und blieb geduldig. Es war unhöflich, das Gespräch anderer zu unterbrechen, auch wenn man davon im Grunde gar nichts mitbekam.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Dalina in den Raum kam, etwas außer Atem, aber offenbar von Frederick benachrichtigt. Ich war dem Kastellan dankbar. Dalinas Gegenwart an meiner Seite würde helfen, den Rest an Bedrohlichkeit, den ich vielleicht ausstrahlte und der zu Missverständnissen führen konnte, zu beseitigen. Neja sah kurz auf, nickte ihr zu, wieder mit dem Versuch eines Lächelns, und starrte dann wieder ins Feuer. Dalina hauchte mir einen eiskalten Kuss auf die Wange, versorgte sich mit Tee und setzte sich zu mir.
»Hoffnung darauf, dass das Land und sein Baron kooperieren können«, erklärte Neja schließlich.
»Was genau muss ich mir darunter vorstellen?«
In meiner Frage schwang all das Misstrauen mit, das ich gegen Magie und ihre Geschöpfe empfand. Im Falle Nejas wusste ich nicht einmal, ob die Sprecherin eine Kreatur der Magie war oder ein Wesen, das diese kontrollierte. Ich war mir nicht sicher, ob im Falle alter Landmagie diese Unterscheidung überhaupt Sinn ergab.
Neja produzierte ein menschliches Achselzucken.
»Wir sind uns bewusst, dass unsere Zeit früher oder später abgelaufen ist. Der Krieg hat den Niedergang der alten Magie nur noch beschleunigt, die meisten Menschen lehnen sie ab oder nutzen sie nur noch für niederträchtige Zwecke. Irgendwann wird das Land sein Bewusstsein verlieren und genauso willenlose Verfügungsmasse der Menschen sein, wie es bereits in vielen Gebieten der Fall ist.«
Das klang resigniert, aber nicht verbittert. Ich fragte mich, ob ich in einer solchen Situation ähnlich empfinden würde. Und ich fragte mich, ob mir das alles nicht furchtbar egal sein sollte. Wenn wir Menschen ohne die alten Künste ganz gut überleben konnten, wozu
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