Ein Lotterielos. Nr. 9672
gestattete, aus jedem sich ihm bieten-
den Rettungsmittel noch Nutzen zu ziehen; er konnte sich
an jedem schwimmenden Wrackstück, an jeder treibenden
Planke halten, wenn nicht alles in den wirbelnden Trichter,
den ein sinkendes Schiff um sich bildet, mit hinabgerissen
worden war.
Nicht selten deuten solche im Meer aufgefangene Schrift-
stücke wenigstens ungefähr an, wo der Unfall stattgefunden
hat. Auf dem vorliegenden fand sich freilich weder eine An-
gabe der geographischen Länge und Breite, noch eine An-
deutung, welches Land oder welche Insel etwa in der Nähe
gelegen hätten. Daraus mußte man schließen, daß der Ka-
pitän vielleicht ebensowenig wie die Besatzung gewußt
hatte, wo sich die ›Viken‹ damals befand. Von einem jener
schrecklichen Stürme, denen kein Segelschiff zu widerste-
hen vermag, war sie zweifelsohne mit weggerissen und weit
aus ihrem Kurs verschlagen worden, und da der Himmel
gewiß keine Sonnenbeobachtung gestattete, so hatte die
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Lage des Schiffes seit mehreren Tagen auch nicht bestimmt
werden können. Deshalb wurde es mehr als wahrscheinlich,
daß man vielleicht niemals erfahren würde, wo sich – in
der Nähe von Amerika, in den Gewässern von Neufund-
land oder Island – der Abgrund über den Schiffbrüchigen
geschlossen hatte.
Das war freilich ein Umstand, der alle Hoffnung auch
demjenigen rauben mußte, der unbedingt nicht verzweifeln
wollte.
Mit jeder noch so unbestimmten Andeutung in der
Hand hätte man doch wenigstens Nachforschungen anstel-
len lassen, ein Schiff nach dem Ort der Katastrophe aussen-
den können, um vielleicht einzelne erkennbare Überreste
aufzufinden. Wer konnte wissen, ob nicht einer oder der
andere Mann der Besatzung irgendeinen Küstenpunkt des
arktischen Festlands erreicht hatte, wo die Leute nun ohne
Hilfe und aller Möglichkeit, in ihr Vaterland zurückzukeh-
ren, beraubt, sich aufhielten?
Derart waren die Bedenken, die nach und nach in Syl-
vius Hog aufstiegen – Bedenken, die für Hulda und Joel
freilich unannehmbar geblieben wären und die in ihnen zu
erwecken der Professor sich sorglich hütete, da die Erschüt-
terung ihrer Hoffnungen ihnen gar so schmerzlich gewesen
wäre.
»Indes«, sagte er sich, »wenn das Schriftstück auch kei-
nen weiteren Hinweis bietet, der sich verwerten ließe, so ist
doch mindestens bekannt, in welcher Gegend die Flasche
aufgefischt wurde. Dieser Brief meldet das zwar nicht, doch
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das Seeamt in Christiania kann darüber nicht im unklaren
sein, und das wäre ja eine Andeutung, aus der sich eini-
ger Nutzen ziehen ließe, wenn man die Richtung der Mee-
resströmungen und die der dort vorherrschenden Winde
in bezug auf das vermutliche Datum des Schiffbruchs be-
rücksichtigte. Auf jeden Fall will ich sogleich noch ein-
mal schreiben. So wenig Aussicht auf günstigen Erfolg sie
auch haben mögen, unbedingt müssen Nachforschungen
so schnell wie möglich angeordnet werden. Nein, ich werde
die arme Hulda niemals im Stich lassen; und nie werd’ ich,
ohne unzweifelhafte Beweise dafür in Händen zu haben, an
den Tod ihres Verlobten glauben.«
Das war der Gedankengang Sylvius Hogs. Gleichzeitig
nahm er sich aber auch vor, von den Schritten, die er in
dieser Angelegenheit tun wollte, von den Bemühungen, die
er mit Aufwendung seines ganzen Einflusses zu veranlassen
hoffte, nicht zu sprechen. Weder Hulda, noch ihr Bruder
erfuhr also etwas von dem, was er nach Christiania schrieb.
Ferner beschloß er, seine für den folgenden Tag angesagte
Abreise auf unbestimmte Zeit zu verschieben – oder viel-
mehr, er wollte nach einigen Tagen abfahren, dann aber,
um sich nach Bergen zu begeben. Dort mußte er von den
Herren Gebrüder Help alles bezüglich der ›Viken‹ erfahren
können, dort wollte er auch die Ansicht der mit derartigen
Vorkommnissen vertrautesten Seefischer kennenlernen,
um danach die ersten zu unternehmenden Nachforschun-
gen zu bestimmen.
Inzwischen hatten sich, auf die vom Seeamt abgegebe-
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nen Mitteilungen hin, die Tagesblätter von Christiania,
darauf die von ganz Norwegen und Schweden, endlich
überhaupt die Zeitungen ganz Europas der eigenartigen
Tatsache – der Verwandlung eines Lotterieloses in ein Do-
kument – bemächtigt. Es lag entschieden etwas Rührendes
in dieser Abschiedssendung eines Verlobten an seine Braut,
und die öffentliche Meinung wurde dadurch, gewiß nicht
ohne Grund,
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