Ein Lotterielos. Nr. 9672
erzittern.
Es war jetzt 7 Uhr und die Hauptmahlzeit schweigend,
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wie in einem Trauerhaus, beendigt. Selbst Sylvius Hog ge-
lang es nicht mehr, ein Gespräch im Gang zu halten – es
fehlten ihm jetzt die Worte, wie die Gedanken. Was hätte er
auch sagen sollen, das nicht vorher hundertmal gesagt war,
zumal da er fühlte, daß dieses sich noch immer länger hin-
ziehende Ausbleiben des sehnlichst Erwarteten die frühe-
ren Erklärungsgründe immer unannehmbarer machte?
»Ich fahre morgen früh nach Christiania«, sagte er. »Joel,
wollen Sie dafür sorgen, daß ich ein Gefährt finde? Sie wer-
den mich nur bis Moel fahren und dann sofort heimkeh-
ren.«
»Gewiß, Herr Sylvius«, antwortete Joel; »Sie wünschen
also nicht, daß ich Sie noch weiter begleite?«
Der Professor machte, auf Hulda deutend, ein abwehren-
des Zeichen; er wollte diese auf keinen Fall ihres Bruders
unnötig berauben.
In demselben Augenblick ließ sich auf der Straße von
Moel her ein erst zwar schwaches, doch immer deutlicher
werdendes Geräusch vernehmen. Alle lauschten. Schon un-
terlag es keinem Zweifel mehr, daß es von einem Wagen
herrührte, der rasch auf Dal zu rollte. Man konnte kaum an-
nehmen, daß das ein Reisender sei, der vielleicht die Nacht
in dem Gasthaus zubringen wollte, denn einfache Touristen
trafen zu so vorgeschrittener Stunde hier gewöhnlich nicht
mehr ein.
Hulda hatte sich zitternd erhoben. Joel ging zur Tür, öff-
nete sie und blickte hinaus.
Das Geräusch wurde schärfer hörbar; es rührte von dem
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Schritt eines Pferdes und dem Knarren der Räder eines
Schußkarrens her.
Der Sturm wütete aber ebenso heftig, daß Joel die Tür
vorläufig wieder schließen mußte.
Sylvius Hog ging in der Stube auf und ab. Joel und seine
Schwester standen dicht beieinander.
Der Schußkarren konnte nur noch 20 Schritte vom Haus
entfernt sein. Würde er hier anhalten oder nicht?
Das Herz schlug allen zum Zerspringen.
Das Gefährt stand wirklich still; man hörte eine rufende
Stimme . . . Die Stimme Ole Kamps war es aber nicht. Gleich
darauf klopfte es schon an der Tür.
Joel öffnete.
Vor der Schwelle stand ein fremder Mann.
»Herr Professor Sylvius Hog?« fragte er.
»Der bin ich«, antwortete der Professor vortretend. »Wer
sind Sie, mein Freund?«
»Ein Expreßbote, der vom Direktor des Seeamts in
Christiania an Sie abgesendet wurde.«
»Haben Sie ein Schreiben für mich?«
»Hier ist es!«
Der Bote übergab hiermit ein großes Schreiben, das mit
dem amtlichen Siegel geschlossen war.
Hulda hatte nicht mehr die Kraft, sich auf den Füßen zu
halten; ihr Bruder half ihr, sich auf ein Bänkchen zu setzen;
keines der Geschwister wagte, Sylvius Hog zum Aufbrechen
des Briefs zu drängen.
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Endlich las dieser wie folgt:
Hochgeehrter Herr Professor!
Als Erwiderung auf Ihren letzten Brief übersende ich Ih-
nen hier eingeschlossen ein Schriftstück, das durch ein dä-
nisches Schiff am vergangenen 5. Juni aus dem Meer aufge-
fischt wurde. Leider läßt dieses Dokument keinen Zweifel
mehr bezüglich des Schicksals der ›Viken‹ übrig . . .
Ohne sich Zeit zu nehmen, um den ganzen Brief durch-
zulesen, hatte Sylvius Hog das Schriftstück aus dem Um-
schlag gezogen, das er aufmerksam betrachtete und dann
umwendete . . .
Es war ein Lotterielos mit der Nummer 9672.
Auf der Rückseite des Loses befanden sich folgende we-
nige Zeilen:
3. Mai – Teuerste Hulda! Die ›Viken‹ ist am Sinken! Mein
ganzes Vermögen besteht aus diesem Lotterielos. Ich kann
es nur Gott anvertrauen, um es Dir zukommen zu lassen,
und da ich nicht mehr dabei sein kann, bitte ich Dich, der
Ziehung beizuwohnen. Nimm es hin mit meinem letzten
Lebewohl an Dich! Vergiß mich nicht in Deinen Gebeten,
meine Hulda! Leb wohl, geliebte Braut, Gott sei mit Dir!
Ole Kamp
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XII.
Das war also das Geheimnis des jungen Seemanns, das die
Aussicht, auf welche hin er hoffte, seiner Verlobten ein,
wenn auch kleines Vermögen zuführen zu können . . .
Ein Lotterielos, das er vor der Abfahrt gekauft hatte . . .
Und in dem Augenblick, wo die ›Viken‹ untergehen sollte,
hatte er es, zugleich mit einem letzten Abschiedsgruß an
Hulda, in einer Flasche geborgen und diese ins Meer ge-
worfen.
Jetzt fühlte sich Sylvius Hog niedergeschmettert. Er sah
einmal den Brief und dann wieder das Schriftstück an, aber
er sprach nicht mehr. Was hätte er
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