Ein Lotterielos. Nr. 9672
wollte
einfach an den Tod Ole Kamps nicht glauben, wollte nicht
zugeben, daß Hulda verurteilt sei, jenen niemals wieder-
zusehen. Nein, solange die vermutete Tatsache nicht hand-
greiflich bewiesen war, hielt er sie noch für falsch, und diese
Anschauung besiegte in seinem Geist alle Widersprüche.
Doch hatte er denn eine Andeutung, auf die er das, was
er in Bergen eben unternehmen wollte, zu stützen ver-
mochte? Gewiß; wenn auch zugegeben werden mußte, daß
es nur eine recht unbestimmte war.
Er wußte nämlich, an welchem Tag das Lotterielos von
Ole Kamp ins Meer geworfen und an welchem Tag, sowie in
welcher Gegend die es enthaltende Flasche gefunden wor-
den war. Darüber hatte ihn der Brief vom Seeamt aufge-
klärt, derselbe Brief, der ihn sofort selbst nach Bergen zu
reisen veranlaßte, um sich mit den Herren Gebrüder Help
und den erfahrensten Seeleuten jenes Hafens ins Einver-
nehmen zu setzen. Vielleicht genügte das ja, um den be-
züglich der ›Viken‹ anzustellenden Nachforschungen eine
erfolgversprechende Richtung zu geben.
Die Reise wurde so schnell wie möglich ausgeführt. In
Moel angelangt, schickte Sylvius Hog seinen Begleiter mit
dem Schußkarren wieder heim, und er setzte seine Fahrt
auf einem jener Boote aus Birkenrinde, die den Dienst auf
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dem Tinn-See versehen, sogleich weiter fort. In Tinoset
mietete er dann, anstatt sich nach Süden, das heißt nach der
Richtung von Bamble, zu begeben, einen anderen Schuß-
karren, der ihn durch Hardanger beförderte, um auf mög-
lichst kurzem Weg den Fjord dieses Namens zu erreichen.
Hier konnte er auf der ›Run‹, einem kleinen, diese Meere-
seinbuchtung regelmäßig befahrenden Dampfer, bis zu des-
sen untersten Ende gelangen. Nachdem er ferner durch ein
wahres Netzgewebe von Fjorden zwischen den der norwe-
gischen Küste vorgelagerten Inseln Storö, Tinaas, Sartorö
und anderen hindurchgeschifft, landete er mit dem Mor-
gengrauen des 2. Juli am Kai von Bergen.
Diese sehr alte, von dem Sogne- und eigentlich auch vom
Hardanger-Fjord bespülte Stadt liegt in überaus herrlicher
Gegend, die der Schweiz ganz ähnlich sein würde, wenn
einst ein künstlicher Meeresarm die Gewässer des Mittel-
meers bis zum Fuß ihrer ehrwürdigen Berge führte. Eine
prächtige Eschenallee leitet den Ankommenden bis zu den
ersten Häusern der Stadt. Ihre hohen, spitzgiebligen Ge-
bäude erglänzen in blendendem Weiß, ganz wie arabische
Städte, und sind auf einem unregelmäßigen Dreieck zusam-
mengedrängt, das ihre 30.000 Einwohner beherbergt. Ihre
Kirchen stammen noch aus dem 12. Jahrhundert, und die
hohe Kathedrale dient weit hinaus den von seewärts kom-
menden Schiffern als Merkzeichen. Bergen ist entschieden
die Handelshauptstadt Norwegens, obgleich es ziemlich ab-
seits der gewöhnlichen Verkehrswege und sehr entfernt von
den anderen Städten liegt, die – es sind das Christiania und
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Trondheim – politisch die erste und zweite Rangstellung im
Königreich einnehmen.
Unter anderen Verhältnissen hätte der Professor gewiß
diesen Hauptort eines Amts, der durch äußere Erscheinung
und Volkssitten fast mehr holländisch als norwegisch zu
nennen ist, eingehend besichtigt, da das ja eigentlich der ur-
sprüngliche Zweck seiner Urlaubsreise gewesen war.
Seit dem Abenteuer auf dem Maristien und seiner An-
kunft in Dal hatte dieses Programm freilich einschneidende
Veränderungen erfahren. Sylvius Hog war jetzt nicht mehr
der zum Vergnügen reisende Abgeordnete, der gleichzeitig
das Land in politischer und kommerzieller Hinsicht durch
den Augenschein besser kennenzulernen suchte; er war
nur der Gast des Hauses Hansen, der sich Joel und Hulda
dankbar verpflichtet fühlte, und das überwog in ihm jetzt
alle anderen Interessen. Er war der Schuldner, der egal um
welchen Preis seine Schuld der Erkenntlichkeit abzutragen
wünschte, und dabei dachte er doch, daß es ja nur eine Klei-
nigkeit sei, was er für jene zu tun vorhatte.
Mit der ›Run‹ in Bergen angelangt, ging Sylvius Hog
im Hintergrund des Hafens an der Ufermauer des Fisch-
markts an Land und begab sich sofort nach dem Quartier
Tyske-Bröderne, wo Help junior vom Hause Gebrüder Help
wohnte.
Natürlich regnete es, denn in Bergen fällt im Jahr an
360 Tagen Regen. Um aber unter sicherem Obdach zu sein,
hätte man nur schwierig ein besser darauf eingerichtetes
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