Ein Lottogewinn und 8 Millionen andere Probleme
schob ich meinen Stuhl zurück und schickte Shaz eine SMS, dass wir uns am Tor treffen sollten. Shaz und Jack hatten ein Stockwerk höher Bio. Ich war froh, dass meine kritischen Freunde nicht mitbekommen hatten, wie Raf mich abblitzen ließ.
Erst an der Tür vom Chemieraum drehte ich michnoch einmal unauffällig nach ihm um. Er saß immer noch am Tisch, starrte ins Leere und machte keine Anstalten, seine Bücher zusammenzupacken.
Doch dann strich er sich das Haar aus dem Gesicht und ich sah sein dick zugeschwollenes, blaurot verfärbtes Auge.
9
Schau immer aufs Preisschild.
Am Schultor prügelten sich die Leute fast. »Lia! Lia!«, brüllten sie. Shazia versuchte vergeblich, für ein bisschen Ordnung zu sorgen. Als ich dann auftauchte, ging das Geschrei und Geschubse erst recht los.
Mr Bright, unser Hausmeister, nahm mich in der Eingangshalle beiseite.
»Warte hier! Ich gehe raus und schicke sie weg«, sagte er. »Kann aber eine Weile dauern. Wenn du das nächste Mal alle einlädst, Lottomädchen, dann bitte nicht auf dem Schulgelände.«
Als ich so dasaß, war ich zum ersten Mal seit Tagen wieder allein. Ich genoss die Stille. Da kam Raf den Flur entlang.
Er sah mich auch. Aber er schaute gleich wieder weg. So ein Arsch!
»Hi, Raf!«, sagte ich.
Er ging einfach weiter. Ich rannte ihm nach und packte ihn am Arm.
»Hallo! Ich rede mit dir!«
Er riss sich los. Er war leichenblass.
»Ich kann jetzt nicht mit dir reden«, stieß er hervor und flüchtete ins Behindertenklo. Mist. Ich stellte mich vor die Tür und lauschte. Ich hörte etwas … es klang fast wie Stöhnen.
»Los, Lia!« Shaz kam angerannt. »Mr Bright hat sie verscheucht. Nur deine Schwester durfte dableiben und Daisy, Roo und ein paar andere Mädchen.«
»Ich komme gleich.« Ging es Raf nicht gut? War er krank? Hatten wir Vollmond?
»Was ist denn?«, fragte Shaz ungeduldig.
Ich zeigte auf die Klotür und flüsterte: »Raf ist da drin!«
»Jetzt spinnst du aber endgültig, Lia«, sagte Shaz, und das keineswegs im Flüsterton. »Reiß dich gefälligst zusammen.«
Wir gingen nach draußen. Die »paar anderen« Mädchen entpuppten sich als mindestens dreißig Mitschülerinnen aus meiner Stufe. Auch Natasha stand da, mit drei Mädchen aus ihrer Klasse: Sophie, Molly und Keira. Ich hatte Natasha noch nie mit einer von ihnen gesehen, und was ihre Aufmachung betraf – Klamotten, Haare und so weiter –, konnte meine Schwester eindeutig nicht mithalten. Trotzdem lachten und tuschelten die vier miteinander wie beste Freundinnen.
Ich rief laut: »Okay, wir gehen in die Passage und ich kaufe jedem ein Teil. Wenn hier jemand dabei ist, mit dem ich eigentlich nicht viel zu tun habe« – ich schaute Georgia Gerrard scharf an –, »muss diejenige entweder meine Schultasche tragen oder die Tasche von einer meiner Freundinnen. Und zwar so lange, bis wir fertig sind.«
»Wer sind denn deine Freundinnen?«, rief Georgias Busenfreundin Alicia.
»Du schon mal nicht!«, konterte ich. »Du trägst die Tasche von meiner Schwester. Shaz, Daisy, Jasmine,Roo, Mimi – ihr sucht euch auch jemanden, der eure Taschen trägt.« Ich ließ den Blick über die Anwesenden wandern, damit sich auch ja niemand drückte.
»Wie jetzt – wegen einem mickrigen Designer-T-Shirt müssen wir für Loser wie Shaz und Roo die Dienerinnen spielen?«, protestierte Georgia. Miststück. Ich hätte sie ja gern als Rassistin beschimpft, aber leider war sie selber farbig. Wobei ich es sowieso nicht gesagt hätte, weil sie mich dann zusammengeschlagen hätte.
»Wenn du meine Freundinnen disst, kannst du das T-Shirt gleich vergessen. Hau ab.«
Georgia war schon losmarschiert. »Vergiss es, Angeberin«, blaffte sie über die Schulter. Ein allgemeines »Ooooh!« erhob sich, aber ein paar andere Mädchen verdrückten sich ebenfalls.
Zum Schluss standen nur noch einundzwanzig Mädchen an der Bushaltestelle: ich, zwölf »offizielle« Freundinnen und acht Taschenträgerinnen. Weil wir so viele waren, fuhren drei Busse hintereinander durch. Die Mädchen schimpften oder verschickten SMS.
»Ich kann nichts dafür«, sagte ich. »Dann nehmen wir eben die U-Bahn.«
Roo verzog das Gesicht. »Grusel.«
Der Weg zur U-Bahn führte über den alten Friedhof. Über den verwilderten, unheimlichen Friedhof mit seinen umgestürzten, von Efeu überwachsenen Grabsteinen, unter denen Ratten hausten. Es war zwar mitten am Tag und der öffentliche Weg war breit, aber normalerweise machten wir einen
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