Ein Mädchen aus Torusk
Deutsche bei diesem Wetter nicht weiter kann.«
»Wirklich, das ist ein Trost, Genosse Major«, antwortete Amganow. »Sie holen mich ab?«
»Ich hole Sie ab.«
Als die Milizkolonne beim Gebietskommissariat hielt, dunkelte es bereits. Da es noch immer schneite, beschloß man, erst am nächsten Morgen weiterzufahren. Sibirien ist groß, es ist zeitlos. Ob ein Mensch einen oder zwei Tage länger lebt, wen kümmert es?
Der ›Rote‹ dachte anders. Ihn trieb ein urgewaltiger, unnennbarer Haß vorwärts. Er jagte mit seinem Rentierschlitten in gerader Richtung nach Süden, umfuhr Torusk, das er gegen Mittag erreichte, zwei Stunden, nachdem Abels und Anuschka in die Wälder gezogen waren, und nahm wie ein von der Natur begnadeter Spürhund die Fährte auf. Obwohl es schneite, erkannte er noch im verharschten Schnee die Kufenspuren und die Abdrücke der kleinen Pferdehufe. Man hat ihnen Sasja mitgegeben, dachte Nikolka. Turganows Lieblingspferd. Und einen leichten Schlitten haben sie, die Spuren graben sich nicht tief ein, trotzdem er sehr beladen sein muß. So einen modernen Schlitten hat nur Hauptmann Samsonow! O ihr Hunde, ihr Verräter der Arbeiterklasse, ihr Kapitalistensklaven, ich bin schneller als er. Viel schneller! Ich kann fliegen mit meinen Tierchen.
»Vorwärts!« rief er seinen Zugrentieren zu. »Vorwärts, ihr Lieben, ihr Guten, ihr Braven! Wir müssen sie fangen!« Er schnalzte mit der Zunge, ließ die Zügel frei und hielt sich fest, weil der leichte Schlitten über die vereisten Schneebuckel sprang wie ein kleines Boot über die tobenden Wellen des Meeres.
An diesem Tage erreichte er den Schlitten Martin Abels' nicht mehr. Nikolka übernachtete im Wald, baute für seine Rentiere eine Laubhütte aus dicken Kiefernästen, verkroch sich in seinem Schlitten unter die Felldecken und schlief bis zum Morgendämmern. Nur dreißig Werst von ihm entfernt schliefen auch Anuschka und Martin im Wald.
Es war ihre Hochzeitsnacht. Und sie verschliefen sie, aneinandergepreßt, zum Umfallen müde, sich verkriechend unter die Decken und dennoch die eisige Kälte spürend, die auch der dichteste Pelz nicht abhalten konnte.
Sasja, das Pferdchen, hatte sich neben zwei vom Sturm entwurzelte Bäume gelegt. Zwischen ihren kurzen, struppigen Beinen lag, zusammengerollt wie ein Muff, der Wolfshund Akja. Der Pope hatte versucht, ihn in Torusk festzuhalten, er hatte ihn angebunden, und Akja hatte getobt wie Olga Turganowa. Mit einem gewaltigen Ruck hatte er sich losgerissen, die Schnur zerfetzte wie billiger Hanf. Der Pope, mutig trotz seines hohen Alters, wollte zugreifen, wurde in die Hand gebissen und heulte auf, schüttelte die blutende Hand und rief den Satan herbei, daß er diesen Hund verschlinge … Akja aber, die Nase tief im Schnee, hetzte dem Schlitten nach und erreichte ihn nach drei Stunden. Vor Freude bellend und winselnd sprang er neben ihm her, und Abels hielt an, sagte: »Komm rein, Akja!« und umarmte den großen grauen Hund, als er mit einem gewaltigen Satz in den Schlitten sprang und seine eisige Nase an dem Gesicht seines Herrn rieb.
Nun lag er am Bauch Sasjas und schlief. Aber er war unruhig. Immer wieder hob er den Kopf, lauschte in die Ferne und winselte leise. Sein Wolfsinstinkt ahnte die Gefahr, die aus einem dreißig Werst entfernten Rentierschlitten drohte.
Am Mittag des nächsten Tages sah Nikolka durch sein Fernglas den Schlitten des Deutschen. Der Verfolger stand auf einer Anhebung, konnte die Ebene überblicken und bemerkte den schwarzen Punkt auf der Schneefläche.
»Am Abend ist alles vorbei«, sagte er heiser vor Aufregung und Freude. »Am Abend wirst du eine Leiche sein, mein Freundchen, und Anuschka wird mir gehören … neben deinem toten Körper werde ich sie im Schlitten zwingen, mich zu lieben.«
Wirklich, sein Haß war grenzenlos. Er fraß sein Herz auf.
In einem weiten Bogen überholte er mit seinem fliegenden Schlitten das trägere Gefährt, suchte sich, nach Überquerung der Ebene, im Wald einen guten Platz aus und wartete.
Nikolka hatte einen guten Ort gefunden. Ein Pfad, den der Schlitten des Deutschen fahren mußte, denn dieser Teil des Waldes war noch unberührt, mit Unterholz verfilzt, Holzschlagkolonnen hatten nur einen einzigen Weg gerodet, er führte an einem fast kreisrunden Platz vorbei, auf dem wohl vor Jahren eine motorisierte Geologengruppe gerastet hatte; sie hatten den Platz für ihr Lager freigeschlagen. Noch heute standen ein paar Holzstapel an den Rändern,
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