Ein Mädchen aus Torusk
verschenken.«
Abels ergriff wieder die Zügel. Er packte sie so fest, als lenke er nicht mit ihnen, sondern als schleiften sie ihn durch den Schnee. Hinter sich hörten sie Nikolka heulen und schreien, fluchen und verdammen. Aber auch diese Laute versanken schnell in der vollkommenen Stille der Wälder, und dann war nur wieder das Klappern von Sasjas Hufen um sie und das Knirschen der eisernen Kufen und ab und zu ein Knistern und dumpfes Klatschen, wenn der verharschte Schnee von den Bäumen fiel und die von der weißen Last befreiten Zweige emporschnellten.
Anuschka behielt recht sie kannte ihr Land ja.
Zwanzig Minuten brauchte Nikolka, bis er auf dem Bauch hinter den Holzstapel gekrochen war und seinen Schlitten erreichte. An ihm zog er sich hoch, ließ sich in die Felle gleiten, holte seinen Verbandkasten heraus und verband den Einschuß im Bein. Dann lag er erschöpft und vom beginnenden Fieber erschlafft unter seinen dicken Pelzen, schwitzte und glühte und hoffte auf ein Wunder.
Das Wunder kam nicht, aber der Tod.
Das Ende in Gestalt Pawel Andrejewitsch Turganows.
Am Abend nach der Hochzeit, als Unjeski endlich wieder in Taragaisk war, erreichte Kommissar Amganow den Freund. Was er berichtete, veranlaßte Unjeski, am Abend noch mit einem Rentierschlitten wieder zurück nach Torusk zu rasen und Turganow von der Gefahr zu unterrichten, in der Anuschka schwebte.
Es gab kein Halten mehr. Während Unjeski bei Olga blieb, machten sich in der Nacht noch, trotz Schneewindes und klirrenden Frostes, Turganow und Hauptmann Samsonow auf. Sie fanden die Spur des ›Roten‹ und folgten ihr beim Schein einer Batterielampe. Die ganze Nacht hindurch suchten sie, verloren die Spur, fanden sie wieder, kamen an den Rastplatz Anuschkas, stöberten das Nachtquartier Litowkas auf und erreichten am Nachmittag den runden Kahlschlag im Wald.
Das erste, was Turganow sah, als er aus dem Schlitten sprang, war der erschossene Akja. Da blieb sein Herz stehen, er wagte nicht, weiterzugehen, sah sich hilfesuchend nach Samsonow um und kaute an der Unterlippe. Er hatte Angst, irgendwo im Wald den Schlitten zu finden, mit der toten Sasja im Geschirr und mit den leblosen Körpern Anuschkas und Tinjas im Inneren. Das hätte ihn umgebracht vor Schmerz, das hätte ihn wahnsinnig werden lassen, und deshalb blieb er stehen.
Samsonow verstand ihn. Allein ging er zu den Holzstapeln und traf dort auf den kleinen Rentierschlitten. Er sah Nikolka wach zwischen den Fellen liegen, deckte ihn auf, sah die Verwundung und deckte ihn wieder zu.
»Gut, daß Sie gekommen sind, Genosse Hauptmann«, sagte Nikolka freudig.
Samsonow antwortete nicht. Ein Soldat bleibt stumm, wenn er dem Tod ins Auge blickt. Dreimal in seinem Leben war er gezwungen, Wehrlose hinzurichten. Es war ein Befehl aus Moskau, und dagegen gibt es nichts. Dreimal hatte er befohlen: »Feuer!« und seine Soldaten hatten geschossen … zweimal auf deutsche Saboteure, einmal auf einen Mörder, der im Lager einer Handvoll Sojabohnen wegen zwei Menschen erdrosselt hatte. Nun war es das viertemal.
Er wandte sich ab, stampfte durch den Schnee zu dem wartenden Turganow und nickte mit dem Kopf zu dem Holzstapel. »Es ist deine Aufgabe, Pawel Andrejewitsch«, sagte er mit rauher Stimme. »Gott wird es nie verzeihen – aber wo ist Gott? War er schon bei dir?«
»Nein.« Turganow lud sein Gewehr. »Die Partei ist unser Höchstes!«
»Also brauchen wir auch nicht Gott, um zu sagen: Verzeih mir!« Samsonow wandte sich um und ging. Über die Schulter rief er: »Ich kümmere mich um das Werkzeug, Pawel Andrejewitsch. Der Boden ist steinhart.«
Turganow ging langsam auf den Holzstapel zu. Als Nikolka ihn sah und erkannte, verzerrte sich sein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. Pawel Andrejewitsch riß die Felle weg und wies auf den Boden.
»Stell dich hin!« sagte er dumpf. »Ich mag keine liegenden Memmen!«
Er half Nikolka aus dem Deckenlager und stellte ihn an den Holzstapel. Mit weiten Augen, in die Schweiß rann, starrte der ›Rote‹ Turganow an.
»Sie sind in Sicherheit …« stammelte Nikolka. »Pawel Andrejewitsch, Freundchen, Genosse, Kamerad … keiner wird ihnen mehr etwas antun …«
Turganow schwieg.
Hauptmann a.D. Samsonow hatte im Schlitten Hacke und Schaufeln gefunden und wuchtete sie auf seine Schulter. Er zuckte nicht einmal zusammen, als am Waldrand ein einzelner Schuß fiel. Ein helles Bellen war's nur, ein Blobb wie der müde Hieb eines Spechtes.
Gerechtigkeit
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