Ein Mädchen aus Torusk
die Waffen dazu geliefert.« Professor Dahrfeld schüttelte den Kopf. »Lieber Holgerson, wundern wir uns nicht. Schlucken wir es wie bittere Medizin – nur hat man mit solcher Medizin noch nie die Politik geheilt. Ein Politikergehirn leidet unter einer besonderen Entzündung, deren Virus wir noch nicht kennen.«
»Sarkasmus hilft uns auch nicht mehr!« rief Holgerson. Er nahm das Telegramm vom Tisch und stopfte es in die Tasche. »Vier Tage trage ich es mit mir herum … ich bitte Sie, Herr Professor, kommen Sie mit mir hinauf zu Inken. Lassen Sie es uns ihr gemeinsam sagen –«
Sie kamen zu spät. Eine Stunde zu spät.
Sie hatten nicht daran gedacht, daß Inken ein Radio auf ihrem Zimmer hatte. An diesem Vormittag hatte sie einen englischen Sender eingestellt, der Musik wegen, aber dann verpaßte sie das Umschalten und hörte die Nachrichten. Ihre englischen Sprachkenntnisse waren so gut, daß sie alles verstand, auch die Tragödie im Busch und die Namen der Toten.
Benno Fahrenkrug. – Sie blieb ganz ruhig. Sie schaltete das Radio ab, zog sich aus, holte die unter der Wäsche versteckte Schachtel mit den gesammelten Tabletten aus dem Schrank, ließ ein Glas Wasser vollaufen und schüttete die Tabletten alle hinein. Es dauerte über fünf Minuten, bis sie sich aufgelöst hatten, das Wasser war milchig-trübe und schmeckte nach bitteren Mandeln, als sie das Glas austrank. Dann legte sie sich ins Bett, faltete die Hände und spürte nach einigen Minuten, wie sie wegglitt in das Dunkel.
Ich werde bei dir sein, dachte sie noch. Gibt es ein Wiedersehen, so werden wir uns jetzt finden. Guten Tag, Martin, oder sagt man besser gute Nacht?
Sie dachte ›Martin‹, nicht Benno. Und sie lächelte glücklich, als Professor Dahrfeld und Reeder Holgerson in ihr Zimmer kamen.
Minuten später fuhr mit heulender Sirene und Blaulicht der Krankenwagen vor.
*
Nach acht Tagen Schlittenfahrt, nach Überquerung der vereisten Wiljuj, Lena und Tolba, nach einer Übernachtung in der Faktorei Jenjuka – die Abels auf der Hinfahrt vermieden hatte, jetzt aber aufsuchen mußte, weil der Schneesturm eine Weiterfahrt zum Selbstmord werden ließ –, nach acht Nächten im Freien und acht Tagen Unendlichkeit in weißer, blendender Wüste, kamen sie ins Hochland, stolperte die todmüde Sasja über die Saumpfade, erreichten sie am neunten Tag, vor der Abenddämmerung, die Datscha des Filmregisseurs Tasskan.
Es war ein schneefallfreier Tag, die Sonne schien, und Abels und Anuschka jubelten auf, als sie von weitem die rosagestrichenen Holzhütten der Datscha sahen, die Ställe, die Palisaden, das doppelstöckige Herrenhaus, den Park.
»Du wirst sehen, wie sie sich freuen!« schrie Abels und gab Sasja die Zügel frei. Sie trabte an, warf die müden Beine vor und schaukelte auf den Eingang zu, der weit geöffnet war, als habe man sie erwartet.
Mit Hallo und lauten Rufen fuhr Abels in den Innenhof. Dann stutzte er, hielt Sasja an und blickte sich um.
Die Läden des Herrenhauses waren zugeklappt. Vor der Tür staute sich der hereingewehte Schnee. Niemand hatte sich mehr die Mühe gemacht, den Hof freizuschaufeln, wie es geschehen war, als Tasskan hier wohnte.
»Hallo!« rief Abels. Eine unheimliche Beklemmung würgte ihm die Stimme ab. »Hallo!«
Aus dem Stall kam eine gebückte Gestalt. Sie blinzelte zu dem Schlitten, hob die Hand gegen die Augen, denn der Schnee blendete in der Abendsonne, dann erkannte er die Fremden und eilte mit lahmen Beinen näher. Es war Anfim, der Knecht.
»Willkommen, Nikolai Stepanowitsch!« rief er mit zittriger Stimme. »Steigen Sie ab. Im Stall ist noch Platz.«
Abels legte die Zügel hin. »Wo ist Tasskan?« fragte er.
Anfim, der Knecht, senkte den Kopf. Sein struppiger Bart zuckte heftig.
»Sie haben Wassilij Petrowitsch verhaftet«, sagte er heiser. »Sein bester Freund war's, Fjodor Konstantinowitsch Alajew! Ein Hund ist er! Nach Tschita haben sie den Herrn gebracht!«
»Verhaftet!« Das Herz Abels' stand einen Schlag lang still. »Und … und Amalja Semperowa?« fragte er stockend.
»Das Fräulein haben sie auch mitgenommen. Sie ist es ja, die man anklagt. Denken Sie sich, Nikolai Stepanowitsch: Amalja soll eine Spionin sein. Eine Amerikanerin.« Der Knecht Anfim schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Hat man jemals schon etwas so Idiotisches gehört, Brüderchen?« Er nahm die Zügel und strich Sasja über die vereisten Nüstern. »In Tschita macht man ihnen einen Prozeß. In zehn Tagen
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