Ein Mädchen aus Torusk
gebildeter (was nicht immer zusammengehört!), um so kannibalischer!
Betty Cormick senkte ebenfalls den Kopf. Auf Wiedersehen, Martin Abels, hieß diese Bewegung. Mach's gut, mein Junge. Es war eine schöne Zeit, mit dir durch die Taiga zu ziehen. Es war eigentlich die schönste Zeit meines kurzen Lebens. Wir waren frei wie die Wölfe und Adler – wir werden nie wieder so frei sein. In Sibirien ist der Mensch ein Stück der grandiosen Natur. Was sind wir hier, in New York etwa oder in München, in London oder Paris, in Rio oder Tokio? Aufgezogene Puppen, in denen das Uhrwerk der Zivilisation abläuft. Wir haben unser Gesicht verloren, wir alle. Wir sind nur Masken lächelnder Verlogenheit. Und deshalb, kleine, schöne, traurig zu mir herblickende Anuschka, bedauere ich dich. Torusk war deine herrliche Welt; in Bremen wirst du wissen, daß die kleinen und großen Teufel der Märchen wir selbst sind.
Felkanow stieß Abels an. Er schrak hoch wie ein aus einem Traum Erwachender.
»Jetzt sagt sie aus«, flüsterte Felkanow. »Hat sie dich gesehen?«
»Ja.«
»Und?«
»Nichts. Wir wissen jetzt, daß jeder seinen eigenen Weg gehen wird.«
Betty Cormick hatte sich erhoben. Ankläger Frolowski begann das Verhör, auf das die Menge im Saal und auf den Straßen gespannt wartete.
»Amalja Semperowa – ich werde Sie jetzt so nennen, weil Sie unter diesem Namen unserem Volke geschadet haben –, bekennen Sie, eine Spionin der Amerikaner zu sein?«
Betty Cormick legte beide Hände auf die Brüstung ihrer Anklagebank. »Ja!« sagte sie mit lauter Stimme und in russischer Sprache. »Ich bin eine Spionin. Ich bin mit einem Fallschirm abgesprungen und hatte den Auftrag, im Büro der sowjetischen Kernforschungszentralstelle mir wichtig scheinende Papiere zu stehlen oder zu fotokopieren.«
Die Menschen im Saal und auf den Straßen Tschitas hielten den Atem an. Die auf den Straßen starrten zu den Lautsprechern empor. Sie erwarteten ein Wunder, denn vor so viel Ungeheuerlichkeit mußten die Lautsprecher auseinanderplatzen.
Ankläger Frolowski setzte sich lächelnd. Die Kameras von Film und Fernsehen nahmen jede Bewegung auf. Generalleutnant Birjukow räusperte sich.
»Ich verlese das Protokoll der Aussagen vor dem Untersuchungsrichter«, sagte er. »Sie, Amalja Semperowa, brauchen nur zu bestätigen, daß alles wahr ist, was Sie schon ausgesagt haben.«
Zwei Stunden dauerte der Prozeß. Dann redete der Verteidiger ein paar kurze Sätze: »Ich bitte um Milde, Genossen Richter. Sie ist eine Frau, irregeleitet von ihren kapitalistischen Hintermännern. Diese gehören auf die Anklagebank – nicht Amalja Semperowa. Sie wollte ihre todkranke Mutter damit retten, und es ist bestialisch, daß Menschen die Todesnot eines anderen zu solch schmutzigen Geschäften ausnutzen.«
Drei Stunden lang beriet das Gericht. In dieser Zeit spielten die Lautsprecher flotte Marschmusik, gaben Nachrichten durch und sang der Chor der Tschitaer Komsomolzen alte Volkslieder und neue Parteichoräle. Drei dumpfe Gongschläge leiteten nach den drei Stunden die Urteilsverkündung ein. Das Leben auf den Straßen Tschitas erstarrte. Den Lautsprechern allein gehörte die Stadt.
»Das kombinierte Militär- und Volksgericht des Distrikts Tschita unter Vorsitz von Generalleutnant Birjukow, Held der Nation, hat beschlossen:
Alle, die den Frieden der Sowjetunion stören, die das werktätige Volk in die Gefahr eines neuen Krieges bringen, die durch Spionage für eine fremde Macht dem Volksvermögen unmeßbaren Schaden zufügen und die Werte des Friedens und des Aufbaues verraten, verdienen die Todesstrafe.
In Anbetracht der Reue von Amalja Semperowa und weil sie eine Frau ist, die gezwungen wurde, Niewiedergutzumachendes auszuführen, hat das Gericht sie der Gnade empfohlen und verurteilt sie zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit –«
Auf der Straße wurde noch lange über dieses milde Urteil diskutiert. In den Wirtschaften hieben die Männer auf den Tisch und schimpften: »Natürlich, wo ein Rock flattert, da rutscht auch den Herren vom Gericht das Herz in den Hosenschlitz. Erschießen hätte man sie sollen, das wäre gerecht! Ach ja, es ist schon was mit der Gerechtigkeit, Genossen!«
»Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit«, sagte Anuschka betreten, als sie auf dem Vorplatz des Parteihauses standen und sich von Felkanow verabschiedeten. »Sie überlebt es nie! Sie tut mir leid. Aber ist es nicht gerecht? Sie war eine Spionin.«
Martin Abels schwieg. Was
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