Ein Mädchen aus Torusk
denke: Ein Blitz wird euch spalten. Es ist alles so furchtbar, Paps.«
Das Sprechen strengte sie sehr an. Man sah es, wie ihre Augen zu flattern begannen, wie die Lider sich darüber senkten und der Mund lautlose Worte formte. Dann schlief sie wieder, und Holgerson ging hinaus, um sich Rat bei Professor Dahrfeld zu holen.
»Sie ist psychisch völlig darauf eingestellt, diesen Martin Abels wiederzusehen«, sagte Dahrfeld. Holgerson lief nervös im Zimmer auf und ab.
»Abels ist tot! Ich kann ihn nicht wieder lebendig machen!« schrie er. »Das muß sie doch begreifen!«
»Sie will es aber nicht. Sie hofft, daß er wiederkommt.«
»Nach fast sechs Monaten! Verschollen in der tiefsten Mongolei! Herr Professor, wenn die Krankheit meiner Tochter eine psychiatrische ist …«
»Eine seelische – das ist etwas anderes, Herr Holgerson.«
»… wenn sie das ist«, schrie der Reeder, »dann hänge ich mich auf! Jawohl, sehen Sie mich nicht so an! Himmel noch mal, wie kann man einem Mann nur so nachtrauern?! Ich kenne doch diesen Abels zu gut! Nichts ist an ihm dran, gar nichts Besonderes.«
»Für Sie, Holgerson. Eine Frau sieht mehr. Was wir abscheulich finden, können sie anbeten. Das bleibt ein ewiges Rätsel. Wir lösen es auch nicht. Wir müssen uns damit abfinden und uns darauf einstellen.«
»Und was soll ich jetzt tun? Ich kann keinen Abels herzaubern.«
»Reisen Sie, Herr Holgerson. Lenken Sie Inken ab. Wie ich sie kenne, wird sie sich für keinen anderen Mann mehr interessieren. Aber sie wird das Leben an sich wieder schön finden, die fremden Länder, die Schönheiten der Landschaften, den Zauber exotischer Menschen.«
»Und dabei an Abels und seine dämliche Anuschka denken.«
»Das wird der Fall sein. Wir werden es nie ändern.« Professor Dahrfeld hob beide Hände wie ein Mann, der seine völlige Armut preisgibt. »Es gibt Wunden, die nie verheilen«, sagte er leise.
*
Die größte Sorge Martin Abels' – wie er aus Rußland wieder herauskam – schrumpfte zusammen zu einem lächerlichen Zeitproblem. Mit tausend Rubel in der Tasche war der Weg vorgezeichnet wie für einen Reisenden, der zu Hause am Tisch sitzt, seine Route genau kennt und nur die Anschlüsse aus dem Kursbuch noch zusammensuchen muß.
Felkanow half Abels, bevor er zurück nach Tygdinsk fuhr. Sie gingen zum Genossen Bahnauskunftsbeamten und trugen ihm ihr Leid vor.
»Mein Freund und seine junge Frau wollen nach Sachalin«, sagte Felkanow, der den Beamten gut kannte. »Ich weiß, eine lange Reise ist das, aber kann man es ihm übelnehmen, daß sein Mütterchen die neue Frau sehen will? Er ist ein braver Sohn, der Nikolai Stepanowitsch. Man findet heute wenig solche Söhne, Genosse!«
Nach einer Stunde langen Studiums der Fahrpläne hatte man eine gute Strecke zusammengestellt. Sie führte von Tschita erst nach Norden bis Oldoij, dann zurück nach Süden bis Birakan im tiefsten Chabarowsk. Dorthin, wo die autonome jüdische Republik der UdSSR gegründet worden war. Ein Land an den Ufern des Amur, von dem die Welt noch nie etwas gehört hat. Von Birakan ging es dann nach Wolotschajewka, vorbei an den Amurseen und über das große neue Komsomolsk hinab zum Meer, nach Sowjetskaja Gawan – dem Hafen, von dem die Boote abgehen nach der Insel Sachalin.
»Eine schöne Reise«, sagte der Bahnbeamte und setzte die Mütze auf seine schweißigen Haare, denn in wenigen Minuten ging ein Zug nach Ulan-Ude ab. »Da seid ihr gute zehn Tage unterwegs. Und die Züge, Genossen, ich sage euch … bei uns haben wir schon keine guten Wagen, aber da unten darf man nicht auf den Boden stampfen, sonst muß man die Strecke mitlaufen.«
»Wir werden geduldig sein«, sagte Anuschka. »Und Zeit haben wir auch.«
Sie hatten wirklich Zeit.
Beim Abschied hatte Felkanow zum erstenmal nach langen Jahren Tränen in den Augen. Er flüsterte Abels beim Abschiedskuß ins Ohr: »Grüß mir die Heimat, Kamerad. Und wenn du mal durch Bückeburg kommst …« Da brach er ab, weil er heulen mußte, stülpte seine Fellmütze über die Ohren und rannte einfach weg.
Nicht zehn, sondern dreizehn Tage lang ratterten Abels und Anuschka durch Gebirge und Steppen, fuhren dem Frühling entgegen, der Wärme, dem Glück.
Dann standen sie am Meer, die Wellen peitschten gegen die Kaimauern von Sowjetskaja Gawan, die Sonne schien heiß, und sie warfen ihre Pelze auf die Erde, breiteten die Arme aus und fielen sich um den Hals.
Am Abend suchte Abels ein Motorboot, das seetüchtig
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