Ein Mädchen aus Torusk
dachte sie. Mit einer harten Bewegung strich sie sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Wer garantiert, daß Tasskan wirklich lebt?«
»Sie werden mit ihm über Kurzwellenfunk sprechen können.« Frolowski lehnte sich zurück und blies den Qualm seiner Zigarette an die Decke. »Warum lassen Sie sich eigentlich in solch schmutzige Geschäfte ein, Amalja Semperowa?«
»Warum?« Betty Cormick hob die Schultern, als fröre sie trotz der Ofennähe. »Ich weiß es nicht – vielleicht aus Haß. Ich habe niemanden gehabt, der mich liebte.«
»Aber ich bitte Sie!« rief General Birjukow und schlug die Hände zusammen. »Es gibt doch Männer genug in Ihrem Leben!«
»Männer!« Betty Cormick zog die Lippen herunter. »Nennen Sie Gier Liebe, General?«
*
Inken Holgerson wurde in letzter Minute gerettet. Man pumpte ihr den Magen aus, gab Kreislaufmittel, Vitamine und reinen Sauerstoff. Trotzdem schlief sie zwei Tage, der Puls war flach und die Atmung kaum hörbar. Reeder Holgerson saß diese beiden Nächte an ihrem Bett und hielt die Nachtwache.
Während Inken dem Leben entgegenschlief, war für Holgerson diese Nachtwache eine seelische Läuterung. Bisher hatte er immer geglaubt, Menschen seien Material, das man formen und aufstellen könnte wie etwa einen Schiffsmast oder ein Nebelhorn. Für ihn war nur Geld ein Begriff – alles andere war zweitrangig. Natürlich, seine Tochter liebte er abgöttisch, aber auch bei ihr hatte er zu praktizieren versucht, was ihm bisher kraft seiner Gefühlskälte immer gelungen war: Eine Inken Holgerson ist neben ihrem Menschsein auch ein Objekt, das ein hohes Kapital repräsentiert. Wenn man dieses Kapital irgendwo einsetzt – etwa in einer Ehe –, muß es ein Geschäft sein, das Zinsen trägt.
Das war kein neuer Gedanke. Königs- und Fürstenhäuser hatten seit Jahrhunderten so gehandelt, der Geldadel hatte sich auf wenige Namen konzentriert eben durch diese Hauspolitik. Nun, im Zeichen eines Konjunkturaufstieges, galt es, nicht abseits zu stehen und, wie weiland Österreich mit seinen Erzherzoginnen, nun mit Inken eine Dynastie Holgerson zu gründen.
Das alles war nun vorbei. Holgerson lief in diesen beiden Nächten durch das Fegefeuer eigener Anklagen, vor allem in der ersten Nacht, als eine Krise eintrat und Professor Dahrfeld in der vorsichtigen Art der Ärzte zu verstehen gab, daß man mit dem Schlimmsten rechnen müsse.
Holgerson hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Laß sie leben, dachte er mit zitterndem Herzen. Laß sie aufwachen, und ich werde nur noch ein Vater sein, der seiner Tochter wegen lebt. Und wenn ich dabei zu einem Trottel werde – es ist mir alles recht. Nur laß sie weiterleben.
Am dritten Tag schlug Inken die Augen auf und sah in das Gesicht ihres Vaters.
»Warum habt ihr das getan?« war ihre erste Frage. Holgerson beugte sich über sie und küßte ihre kalte, bleiche Stirn.
»Was haben wir getan?« fragte er heiser. »Es ist so schön, daß du wieder bei uns bist.«
»Ihr habt mich gerettet.«
»Ja, natürlich.«
»Ich wollte nicht mehr leben.«
»Aber Inki!« Holgerson würgte an einem Kloß, der ihm in der Kehle aufquoll. »Das Leben ist doch so schön.«
»Warum lügst du, Paps?« Sie wandte den Kopf weg, um nicht mehr in das zuckende Greisengesicht sehen zu müssen, in dem sie, aus dieser Nähe, nur noch mit Mühe ihren Vater erkennen konnte. »Martin ist tot … Benno wurde von Eingeborenen erschlagen … ich bin zeitlebens ein Krüppel … warum habt ihr mich nicht sterben lassen. Es ist so schön im Nichts …«
»Ich werde dir ein neues Pferd kaufen, Inki. Du sollst einen ganzen Bauernhof bekommen, in der Marsch, weißt du, mit einer Kutsche, da kannst du sogar vierspännig fahren. Wir werden durch die Welt reisen, wohin du willst, wohin man uns läßt … von mir aus auch nach Sibirien …« Holgerson atmete heftig. »Nur hab wieder Mut, Kind. Hab Freude am Leben! Was soll ich denn ohne dich? Was soll ich dir denn geben, damit du wieder fröhlich bist?«
»Guter Paps.« Inken lächelte schwach. »Ich bin innerlich wie leer. Wenn ich nach innen spreche, ist es, als halle meine Stimme in einer riesigen Höhle.« Ihr Lächeln erfror. Sie tastete nach der Hand Holgersons und umklammerte seine Finger. Ihr Griff war kalt wie der einer Totenhand. »Ich habe an nichts mehr Freude, Vater«, sagte sie leise. »Ich sehe die Sonne und denke nichts dabei. Ich sehe die Blumen und denke: Auch ihr verwelkt. Ich sehe die Wolken und
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