Ein Mädchen aus Torusk
spürte, wie aus dem Lachen schreiende Hysterie wurde, ein Ausbruch zerrissener Nerven, wie er fürchterlicher nicht sein konnte.
»Tinja! Was ist denn?!« rief Anuschka und umklammerte ihn, streichelte sein zuckendes Gesicht und versuchte, den Lachenden an sich zu pressen. »Was hast du denn? Tinja! Mein Tinja! Du bist ja ganz von Sinnen! So habe ich dich nie gesehen. Nie. Was ist denn, mein Gott?!«
Abels richtete sich auf und warf die Arme um Anuschkas schlanken Körper.
»Nichts, Anuschka!« sagte er laut und noch keuchend von seinem Lachkrampf. »Sie haben mich begrüßt, wie es bei uns üblich ist. Wir sind verhaftet, mein Kleines! Oder besser: Wir sind endlich zu Hause!«
Der Botschaftsrat stand konsterniert hinter seinem Schreibtisch und spielte nervös mit dem Aktenstück. Er tat nur seine Pflicht, er vollzog lediglich eine Amtshilfe, zu der er aus Deutschland gebeten worden war. Ob der Verdacht zu Recht bestand oder nicht, das durfte ihn nicht kümmern, das war Angelegenheit der bittenden Behörde in Köln. Wo käme man hin, wenn jeder Beamte seine Akten auf Richtigkeit prüfen wollte? Man würde ja nie fertig. Und die Presse würde wieder schimpfen über die Bummelei deutscher Bürokratie.
»Verhaftet?« fragte Anuschka und sah mit ihren großen schwarzen Augen den deutschen Botschaftsrat an. Sie bemühte sich, deutsch zu sprechen, sie suchte die wenigen Worte zusammen, die sie von der Schule her behalten hatte und die Abels sie gelehrt hatte. »Warum? Tinja ist gutter Mann. Nix schlecht Tinja. Hier ist Freiheit, nicht? Saggen warum, Towarisch.«
Der Botschaftsrat setzte sich. Immer muß man die unangenehmen Dinge allein machen, dachte er. Mit gerunzelter Stirn blickte er zu Martin Abels. Dieser hatte sich in einen Sessel fallen lassen und kämpfte noch mit der Atemlosigkeit, die nach dem hysterischen Lachausbruch gefolgt war. Sein Gesicht war hochrot, er hatte sich das Hemd aufgerissen und lehnte den Kopf weit nach hinten. Seine Kleidung war schmutzig und an vielen Stellen eingerissen, mit Lehm und Staub verschmiert, die Schuhe hatten durchgelaufene Sohlen, ein drei Tage alter Bart sproß über das wie gegerbt aussehende Gesicht.
Er sah einem Landstreicher ähnlicher als einem Mann, der in Deutschland eine der bekanntesten Kugellagerfabriken besitzen sollte. Er mußte, so dachte jeder, der ihn jetzt sah, aus der Gosse kommen, aus den Slums von Tokio, vom Hafenviertel, wo er in den Lagerschuppen übernachtete oder unter den Brücken.
»Sie haben keinen Paß mehr!« fragte der Botschaftsrat mit deutlicher Reserve. Abels warf den Kopf nach vorn auf die Brust und starrte den eleganten Herrn hinter dem polierten Schreibtisch an.
»Doch. Eine sowjetische Kennkarte auf den Namen Nikolai Stepanowitsch Arkadjef.«
»Ich denke, Sie heißen Abels?« Der Botschaftsrat blätterte in dem Aktenstück. »Sie fuhren nach Japan, ließen sich gegen den Rat der Botschaft mit einem mongolischen Flugzeug in die Mongolei fliegen und wurden da vermißt. Uns wurde gemeldet, daß Sie kurz darauf der Aufsicht der mongolischen Regierung entflohen. Man nahm an, daß man Sie entweder getötet habe oder daß Sie im Auftrage eines östlichen Geheimdienstes …«
»Aber das ist doch Blödsinn!« schrie Abels. Er hatte keine Veranlassung, sich zu beherrschen. Er sprang auf und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin illegal nach Sibirien gegangen, ich bin zu Fuß von der Mongolei bis zur Lena, bis nach Torusk, um Anuschka zu holen!«
Der Botschaftsrat lächelte leicht. »Das soll man Ihnen glauben?«
»Da steht sie ja, das Mädchen Anuschka! Ist das kein Beweis?!«
»Wer sagt, daß sie aus Torusk kommt?«
Die Verblüffung ließ Abels wieder in den Sessel zurücksinken. »Aber … aber woher soll sie denn sonst kommen?«
»Das weiß ich nicht. Haben Sie Beweise?«
»Beweise –« Abels schlug die Hände vor das Gesicht. »O Gott! Wie konnte ich in Sibirien vergessen, eine amtliche Abmeldebescheinigung für Anuschka zu holen. Mit Stempel und Unterschrift. Einwohnermeldeamt Schigansk.«
»Das wäre natürlich am besten gewesen.«
»Mein Herr! Begreifen Sie nicht? Ich habe Anuschka aus diesem Land herausgeholt. Wir sind geflüchtet aus Sibirien. Wir haben gedacht, unser weiteres Leben in der Freiheit genießen zu können. Freie Menschen in einer freien Welt! In einer Gemeinschaft, die so gern und so oft in alle Winde schreit: Wir sind die einzige freie Welt. Bei uns gilt das Menschenrecht! Darum sind wir Tausende
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