Ein Mädchen aus Torusk
keinen Amganow und keinen Samsonow, keinen Unjeski oder Alajew. Bei euch kann man sagen: ›Genosse, sei nicht blöd!‹, und du kommst doch in kein Lager – hier kommst du hinter eine feste Tür, wenn du bloß sagst: ›Herr Regierungsrat, seien Sie nicht blöd.‹«
»Aber wenn er doch wirklich dumm ist, Tinja?«
»Das spielt keine Rolle. Bei uns darf man nicht alles sagen, auch wenn es wahr ist. Man muß höflich sein, und Höflichkeit besteht zu neunzig Prozent aus Lüge.« Abels lächelte bitter. »Du mußt vieles lernen, Anuschka. In Sibirien hattet ihr Angst vor der Politik, vor dem Politruk, vor den Befehlen aus Moskau, vor dem staatlichen Soll, vor der Gefahr, nicht sozialistisch, sondern bourgeois zu sein. Das alles gibt es bei uns nicht. Hier sind wir wirklich frei. Aber bei uns ist die größte Gefahr der Mensch, Anuschka, dein Nächster, dein Freund, dein Kamerad, dein Partner, dein guter Bekannter, der Fremde, mit dem du in Verbindung kommst. Alle werden dich irgendwann und irgendwie belügen, sie werden dich betrügen, zu übervorteilen versuchen, dich an die Wand drücken, dich diffamieren, Klatsch über dich erzählen und Gerüchte verbreiten. Sie werden dich umarmen und küssen, auf die Schulter klopfen und dich hochleben lassen, dich loben und preisen, dir recht geben und dir zuhören, als verkündest du ein neues Evangelium – und im Inneren werden sie denken: ›Diesen Kerl sollte man umbringen.‹, oder: ›Dieses Weibsbild müßte man vergiften.‹ Man wird deine Kleider loben und denken: ›Wie geschmacklos sie wieder herumgeht‹, und man wird vor Neid gelb werden und vor Mißgunst einen Gallenanfall bekommen und sagen: ›Ach, meine Liebe, meine dumme Migräne. Sicherlich ist Föhn – es wirft mich immer um. Ich war schon immer ein zartes Geschöpf.‹ Und du stehst inmitten dieser Lüge und dieses laufenden Betruges, weißt, daß man dich betrügt – und lügst mit, weil es eben nicht anders geht.«
»Ich werde nie lügen, Tinja. Nie! Ich habe noch nie gelogen.« Anuschkas schöne schwarze, schräge Augen blitzten auf. »Ich werde allen sagen, was ich denke.«
»O Himmel! Armes Bremen!« Abels lachte, aber Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. »Wir werden in die Heide ziehen müssen, in die völlige Einsamkeit.«
»Ich verstehe das nicht.« Anuschka setzte sich in den Sessel und schlug die Beine übereinander. Sie trug noch immer die blauen sibirischen Leinenhosen, wie man sie im Sommer anzieht, der Mücken wegen, die aus den Wäldern und Sümpfen kommen und jede nackte Hautstelle anfallen wie blutgierige Bestien. »Warum mögen sie die Wahrheit nicht? Gibt es Schöneres als die Wahrheit, Tinja?«
»Was soll ich darauf antworten?« Abels starrte wieder auf die Gläser und den Siphon im Garten. Der Abend war gekommen, eine bläuliche Dunkelheit zog über das Land, die Federballspieler saßen neben dem Tisch in niedrigen Rohrsesseln und lachten miteinander.
»Wenn jemand häßlich ist, sagst du das?«
»Ja! Und in Torusk wird er antworten: Mein Täubchen, das weiß ich! An jedem Strauch gibt es taube Nüsse.«
»Verlange vom Westen nicht diese Selbsterkenntnis. Wenn du einer Dame sagst: ›Ihre Frisur ist aber scheußlich‹, wird sie dir das bis zu ihrem Lebensende nie vergessen. Bei euch in der Taiga ist die Wahrheit so selbstverständlich wie das Wachsen der Bäume – bei uns ist die Wahrheit das Deprimierendste überhaupt, weil wir alle in der Wärme eines Selbstbetruges leben.«
Der Botschaftsrat kam zurück. Im Pressebüro hatte der Fernschreiber eine Meldung aus Deutschland aufgefangen. Mit dem aus dem Schreibkasten herausgerissenen Zettel in der Hand betrat der Beamte das Zimmer. Sein Gesicht war verändert – es glänzte vor Jovialität und Freundschaft. Abels war versucht, Anuschka anzustoßen und ihr zuzuflüstern: Hör ihm genau zu. Die große Lüge beginnt. Wir sind wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.
»Ich freue mich, daß sich alles so schnell klärt«, rief der Botschaftsrat und schwenkte das Fernschreiben. »Ihr Rechtsanwalt bürgt für Sie, das Verfassungsschutzamt hat nichts dagegen, wenn Sie als Privatfluggast zurückkommen.«
»Wie nobel«, warf Abels bitter ein.
»Ihr Wiederauftauchen hat in der Heimat große Freude ausgelöst. Dr. Petermann muß außer sich gewesen sein. Sein Telegramm beginnt mit den Worten: Gratuliere! Gratuliere! Gratuliere!«
»Der gute Petermann«, sagte Abels. »Er freut sich wirklich.«
»Wir alle freuen uns, Herr
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