Ein Mädchen aus Torusk
Schleier über ihr Gesicht fallen. »Wenn du mich so ansiehst, Tinja, werde ich wieder verlegen. Du bist mein Mann, und ich tue alles, was du willst. Ich lüge auch –«
»Du hast dich fabelhaft benommen, Anuschka.« Abels ging auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Er strich die Haare aus ihrem Gesicht und sah in ihre strahlenden, schwarzen, schrägen Augen. »Du darfst nie lügen … du sollst es dir gar nicht angewöhnen, Anuschka. Du sollst immer und überall nur die Wahrheit sagen.«
»Aber wenn es nicht gut ist, wie du sagst.«
»Was kümmert's uns? Wir leben sowieso in unserer eigenen kleinen Welt.«
»Und deine Freunde!«
»Sie werden sich umstellen müssen.«
»Und die anderen Frauen?«
»Sie werden es schlucken müssen.«
»Und wenn sie mich hassen?«
»Das werden sie bestimmt.«
»Dann mußt du mich trösten, Tinja.« Sie legte den Kopf an seine Schulter, und plötzlich zitterte sie, als friere sie. »Ich habe solche Angst vor Deutschland, Tinja«, flüsterte sie. »Du darfst mich in der ersten Zeit nicht allein lassen, nicht eine Stunde. Wenn du mich allein läßt, werde ich mich verkriechen wie ein gejagter Fuchs.«
In der Nacht wachte Abels auf. Anuschka lag in seinen Armen, und noch immer zitterte sie. Die Angst vor dem neuen Leben verfolgte sie bis in den Schlaf, bis in den Traum. Er küßte ihre ein wenig geöffneten, bebenden Lippen und spürte, wie kalt sie waren. Behutsam zog er sie näher zu sich, deckte sie zu, spürte, wie ihre Körper sich gegenseitig wärmten und wie Anuschkas inneres Zittern nachließ. Sie seufzte leise im Traum, bewegte den rechten Arm, griff im Schlaf nach Martin und legte die Hand auf seine Brust. So zärtlich, so selbstverständlich war das, als sei es nie anders gewesen.
»Für dich erwürge ich den Teufel«, flüsterte Abels ihr ins Ohr. Sie wachte nicht auf, sie schlief weiter, aber es war, als habe sie es doch gehört. Über ihre Lippen glitt ein Lächeln.
*
Die Nachricht von der Rückkehr Martin Abels' wirkte in Bremen wie ein Deichbruch. Rechtsanwalt Petermann las zunächst das Telegramm aus Tokio mehrmals durch, dann unternahm er einen jugendlichen Kraftakt, indem er einen Luftsprung andeutete, was seiner Sekretärin sprachloses Erstaunen entlockte. Darauf rief er als erstes den gemeinsamen Stammtischfreund und Kriegskameraden, Metzgermeister Heinz Fernholz, an und sagte mit brüllender Begeisterung: »Heinz! Halt dich am Hauklotz fest: Martin ist wieder da! Er ist in Tokio. Mit seiner Anuschka!«
Eine Antwort wartete er nicht ab. Sie war auch nicht nötig, denn eine Viertelstunde später raste Heinz Fernholz mit seinem Wagen heran und stürzte in die Kanzlei Petermanns.
»Wo ist er?« schrie er. »In Tokio? Zurück aus Sibirien? Und er hat wirklich seine Anuschka mitgebracht, dieses Mädchen aus Torusk? Mensch, da wirste doch verrückt! Das ist das größte Abenteuer des Jahrhunderts! Unser Martin! Los! Telegrafiere zurück.«
»Schon geschehen. Geld ist unterwegs, eine amtliche Auskunft – der Knabe ist ohne jeden Paß gelandet, das heißt, er hat ein sowjetisches Papierchen auf den Namen Arkadjef.«
»Arkadjef? Das sieht ihm ähnlich!« Heinz Fernholz wischte sich den rinnenden Schweiß aus den Augen. Es war ein warmer Apriltag, der zweite nach einer langen kühlen Regenperiode. »Wann kommt er denn?«
»Ich nehme an, mit dem nächsten Flugzeug.« Rechtsanwalt Petermann hatte sein Büro geschlossen, ebenso wie Fernholz seine Metzgerei für heute seinem Gesellen überließ. »Ich habe sofort alles, was nötig ist, veranlaßt. Die Direktion der Abels-Werke weiß Bescheid. Junge, die sind fast vom Stuhl gefallen! Die werden ihren Chef empfangen wie einen Auferstandenen. Und ja, Holgerson habe ich auch angerufen.«
»Warum denn das?« fragte Fernholz tadelnd.
»Ich hielt es für meine Pflicht.«
»Und was sagte er?«
»Wenig. Er war betroffen. Er bat mich als erstes, vor der Presse zu schweigen. ›Verhindern Sie bitte jede Sensation‹, sagte er wörtlich. ›Ich bitte Sie als Vater einer nervenschwachen Tochter um diesen Dienst.‹ Ich nehme an, daß er sich den Kopf darüber zerbricht, wie er es Inken beibringen soll. Der Mann tut mir leid, Heinz … und für Inken kommt jetzt die schwerste Stunde überhaupt. Ich weiß, daß sie immer im stillen geglaubt hat, daß Martin doch noch zurückkommt – aber allein, ohne Anuschka. Diese große Hoffnung hielt sie aufrecht. Nun ist es eingetroffen, aber Anuschka ist dabei. Für Inken bedeutet
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