Ein Mädchen aus Torusk
Ende der Leitung blieb es einige Sekunden still. Dann sagte die Stimme Petermanns:
»Ja, Fräulein Inken. Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Es stimmt also!« Inken Holgerson lehnte sich gegen die Wand. Das kleine bißchen Hoffnung, daß es nur ein Gerücht, ein Geschwätz gewesen sein könnte, war entschwunden. Martin kam zurück. Er lebte. Und sie mußte ihm gegenübertreten als ein Krüppel. Die schwerste Frage aber stand noch aus, und sie brauchte alle Kraft, um sie mit ruhiger Stimme zu stellen.
»Ist Martin allein zurückgekommen?«
Diesmal antwortete Petermann sofort. »Nein!« sagte er ohne Zögern.
»Er hat Anuschka gefunden?«
»Ja.«
»Danke, Doktor.«
»Noch eins, Fräulein Inken. Ich habe den Auftrag von Martin erhalten, eine Begrüßungsparty zu arrangieren. Darf ich Ihnen und Ihrem Herrn Vater auch eine Einladung schicken?«
»Warum nicht?« Inken schloß die Augen. Ich werde Anuschka sehen. Ich werde ihr gegenüberstehen, wir werden uns die Hände reichen, wir werden uns ansehen. Und ich werde denken: Das ist sie – und sie wird denken: Das war sie. Wir werden uns anlächeln und im tiefsten Herzen hassen. Vorher aber werde ich in Martins wunderschöne Halle hinken, und alle werden mir entgegenblicken, wenn ich am Stock von der Diele hereinhumpele.
Sie lehnte die Stirn gegen die Wand und schloß die Augen. O Gott, ich kann es nicht. Ich kann nicht …
»Ich freue mich, daß Martin dieses große Abenteuer überlebt hat«, sagte sie dagegen laut in das Telefon. »Und natürlich bin ich neugierig, wie diese Anuschka aussieht. Lieber Doktor – wäre ich sonst eine Frau ohne diese Neugierde?«
Sie lachte trocken und legte auf. Petermann nagte an der Unterlippe, als auch er den Hörer zurücklegte. »Inken Holgerson war's.« Sein Blick traf den Metzgermeister Fernholz, der die Kognakflasche für sich beschlagnahmt hielt. »Sie war völlig unbefangen, ja sogar witzig.«
»Na also! Ist alles halb so schlimm, Ludwig!«
»Und trotzdem habe ich ein unheimliches Gefühl. Sie war mir zu gefaßt. Sie überspielt ihre wahre Regung.«
»Ihr Anwälte!« Fernholz trank noch einen Kognak. »Man kann es euch nie recht machen. Hätte sie geheult, wär's auch falsch gewesen.«
»Nein! Richtig! Das war es ja, was mir fehlte: Jegliche Regung.« Petermann sah auf das Telefon, als erwarte er noch einmal einen Anruf Inken Holgersons. »Sie sprach von der Rückkehr Martins wie von einem avisierten, aber verzögerten Päckchen, das irgendwo auf der Post herumgelegen hatte und nun gefunden worden war.«
Um die gleiche Zeit humpelte Inken die Treppe hinunter zum Speisezimmer, wo Reeder Holgerson schon am Tisch saß und die Abendzeitung las. Er winkte seiner Tochter zu, als sie eintrat, erhob sich, schob ihr den mit flämischem Gobelin bezogenen Stuhl unter, küßte sie auf die Haare und tätschelte ihre rechte Wange.
»Was hat mein Liebling heute gemacht?« fragte er. Dann sah er das Kleid und hob erstaunt die Augen. »Nanu! Seit wann hast du ein neues Kleid? War der Modesalon hier?«
»Das Kleid ist vom vorigen Sommer, Paps.« Inken faltete die Serviette auseinander und legte sie auf den Schoß. »Haben wir für kommenden Samstag schon disponiert?«
»Nicht, daß ich wüßte.« Holgerson dachte nach. »Samstag, nein. Willst du wegfahren?«
»Wir sind zu einer Party eingeladen.«
»Das ist schön.« Holgerson faltete erfreut die Zeitung zusammen und legte sie weg. Inken bekam Interesse an Hausbällen, das war ein großer Fortschritt. Sie kroch aus ihrer selbstgewählten Einsamkeit wieder heraus. Sie wollte fröhliche Menschen sehen. Es schien sich zu bewahrheiten, was Professor Dahrfeld gesagt hatte: Zeit lassen. Abwarten. Sie ist ein junger Mensch – einmal bricht die junge Natur doch durch. Es ist nicht das Wesen der Jugend, in Melancholie zu versinken. »Seit wann weißt du das?«
»Seit einer Stunde etwa, Paps.«
»Und wer gibt die Party? Konsul Hörlimann? Dr. Plath?«
»Nein.« Inkens Stimme war ganz ruhig. Sie griff zu dem goldgelben Toast und zog die silberne Butterschale zu sich heran. Mit einem kleinen, vergoldeten Buttermesser legte sie sich eine Scheibe Butter auf den Tellerrand. »Bei Martin Abels.«
Holgerson klammerte sich am Tischrand fest, er bekam in diesem Augenblick keine Luft mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seine Tochter an, er schluckte ein paarmal, dann konnte er wieder atmen, er holte tief Luft, was wie ein lautes, verzweifeltes Seufzen klang.
»Abels … ja … Kind …
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