Ein Mädchen aus Torusk
Abels gebracht und ihn den ›Leander des 20. Jahrhunderts‹ genannt hatte, der seine Hero erreicht hatte – eine poetische Verbrämung einer ungeheuren Leistung, die ein Boulevardblatt schlicht ›Ehemaliger Plenny holt sein Mädchen nach acht Jahren heimlich aus Sibirien‹ nannte –, war die Einladung wirklich ein Maßstab für die Gesellschaftsfähigkeit der einzelnen Familien. Petermann hatte keinen bekannten Namen ausgelassen, und so waren alle zufrieden, in Smoking und Abendkleid in der großen Halle oder auf der infrarot geheizten Glasterrasse der Abels-Villa zu stehen, das Glas Begrüßungssekt zu trinken und unverhohlen die neue Dame des Hauses, Anuschka Turganow aus Torusk in Sibirien, betrachten zu können.
Anuschka trug an diesem Abend ein enges, rotes schlichtes Kleid. Ihre langen schwarzen Haare flossen wie ungekämmt über ihre Schulter, und alle Herren waren sich ohne Absprache einig, daß dieses eine wertvollere Bedeckung der Schulter sei als jeder Saphir- oder White-Nerz. Sie war kaum geschminkt bis auf die Lippen und einen Augenstrich, der das Asiatische an ihr noch verstärkte. Martin wollte es so, und sie hatte es getan.
Als letzte Gäste fuhren Reeder Holgerson und Tochter vor. Die Gespräche brachen wie auf ein leises Kommando ab, als Diener Alfons meldete: »Herr Holgerson und Fräulein Tochter!«
Martin Abels nickte Anuschka zu. Er ging von ihrer Seite weg zur Tür, um Holgerson zu empfangen.
In der Diele stand Inken vor dem Spiegel und ordnete die Haare. Der Stock an ihrem Arm wirkte fremd, eine dunkle Stange an einem silberglänzenden Abendkleid im Empirestil. Das Kleid war tief dekolletiert und verriet viel von der sportlich-schlanken Figur Inkens.
»Willkommen in der Heimat!« rief Reeder Holgerson, als er Abels an der breiten Glastür zur Halle stehen sah. Mit ausgestreckten Armen kam er auf ihn zu. »Sie sind ja ein Teufelskerl, Abels! Und so etwas ist Industrieller! Und blendend sehen Sie aus! Sibirien scheint ein gesundes Klima zu haben!«
Martin Abels drückte Holgerson die Hand, dann wandte er sich Inken zu, die am Spiegel stand, den Stock am linken Arm hängend, unbeweglich, mit verschleierten Augen. »Inki!« sagte Abels laut.
Sie zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Inki! Niemand konnte es so zärtlich aussprechen wie er. Inki …
Sie blieb stehen wie eine Statue, eine Frau in Silber. Martin Abels eilte auf sie zu. Von Petermann wußte er, welche tragischen Monate hinter Inken lagen. Als sei es selbstverständlich, als habe es nie etwas anderes gegeben, legte er Inkens schlaffen Arm in seinen Arm, küßte sie zart auf die Schläfe und sagte fröhlich:
»Nun kann das Fest beginnen! Komm, gehen wir. Den dummen Stock da wirf weg … an meinem Arm gehst du besser! Ich bin stärker als jeder Knüppel!«
Inken Holgerson schwieg, aber der Stock glitt aus ihrem Arm und polterte auf den Marmorboden. Diener Alfons hob ihn auf und trug ihn weg zur Garderobe.
In der Halle lag eine erwartungsvolle Stille. Der prickelnde Zauber einer kommenden Sensation lag über jedem der Gäste.
Mit einem verzerrten Lächeln ging Inken an der Seite Martins in die Halle. Sie humpelte, ihr verkürztes Bein tappte über den Boden, aber sein Arm hielt sie fest, glich den Unterschied aus, hob sie bei jedem Schritt über die fehlenden Zentimeter des zertrümmerten Beines.
Die Tür … die gläserne Halle … hundert erwartungsvolle Augen … Inkens Kopf hob sich, wie eine Königin war sie, ihr Körper straffte sich … Wo ist sie, dachte sie. Wo ist diese Anuschka? Wo ist dieses Weib aus der Taiga?
Und dann sah sie sie plötzlich. Allein, umgeben von dem Halbkreis der Gäste, stand sie da, in ihrem flammend roten Kleid, mit den losgelösten schwarzen Haaren, mit den herrlichen schräggestellten Augen. Sie nickte Inken zu, und dann kam sie auf sie zu, gleitend, schwebend, unwirklich. Das Herz Inkens setzte einen Schlag lang aus, doch sie faßte sich schnell wieder. Wie schön ist diese Frau, durchfuhr es sie. Wie unwahrscheinlich schön. Sie spürte, wie sie am Arm Martins zitterte.
Und dann standen sie sich gegenüber.
Ihre Blicke kreuzten sich – wären sie eine Materie gewesen, hätte es wie das Aufeinanderprallen von Eisen geklungen. Aber dann lächelte Anuschka. Sie hob die Hand und streckte sie Inken mit einer fast rührenden Geste entgegen.
»Gutten Abendd!« sagte Anuschka unbefangen. »Schönn, daß gekommen. Martin viell erzällt …« Zum erstenmal sprach sie den Namen Martin aus
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