Ein Mädchen aus Torusk
bin aufgewachsen in einer Volksrepublik. Ich habe nichts anderes gekannt als Lenin und Stalin und Chruschtschow. Ich habe gelernt: Jeder gute Mensch ist ein Kommunist. Ich habe gesungen: Die Partei hat immer recht. Ich habe in der Schule ein Gedicht aufgesagt: Die rote Fahne ist die Sonne unsres Volkes – Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es etwas anderes geben könnte. Nur Mamuschka hat mir manchmal erzählt von ihrer Mutter, die in jener fernen Zeit lebte, als es noch einen Zaren gab, einen Ausbeuter, wie man jetzt sagt, einen Feind des tätigen Volkes. Damals hatte es in Moskau über hundert Kirchen gegeben und in Rußland hunderttausend Mönche. Sonntags ging man mit gefalteten Händen und gesenktem Haupt zur Kirche, wenn die Glocken dröhnend die Gläubigen riefen zum Gottesdienst, und selbst der Zar kniete vor dem Metropoliten und ließ sich segnen wie der einfachste Muschik aus seinem Blockhaus. Und Mamuschka kannte noch die alten Kirchenlieder. Manchmal sang sie sie vor, am Ofen sitzend oder in der Ecke, wo das Bild Lenins hing und nicht mehr eine Ikone. Pawel Andrejewitsch Turganow, das Väterchen, sah und hörte das nicht gern. »Laß das, Olgaschka«, brummte er dann. »Man kann es hören draußen. Die Zeit ist vorübergegangen an uns. Daß du nie begreifst, wie man die neuen Lieder singt.« Und er stellte sich hin, holte Luft, blies den Brustkorb auf wie einen Blasebalg und donnerte gegen die Decke mit tiefer, bärengewaltiger Stimme: »Die Partei hat immer recht …«
Und jetzt fragen sie mich, ob ich eine Kommunistin war. Wie kann man einen jungen Russen so etwas fragen?
»Isch nix war«, sagte sie fest und sah die gespannten Frauen an. Ihre Augen sind wie Schlangen, die ein Kaninchen sehen, dachte sie dabei. Sie wollen mich verschlingen! O hilf mir, Tinja! »Isch bin!«
Frau Senator Pottbeck zuckte zusammen, als habe man sie in den vorstehenden, durch Korsett und Stangen eingedämmten Busen gekniffen. »Sie sind es? Aber ich bitte Sie! Sie leben jetzt hier in einer Demokratie, in der man den Kommunismus verboten hat. Er ist staatsfeindlich! Und Sie bekennen sich dazu? Ich weiß nicht, was man da sagen soll.« Sie blickte sich empört zu den anderen Damen um. Der schwarze Engel der Entrüstung senkte sich über die Gesellschaft. Die Mokkatassen erkalteten. Es war unmöglich, eine bolschewistische Tasse anzurühren.
»Isch nix viel verstähen von Worte, was Sie saggen.« Anuschka hob die schönen Schultern. Und jetzt begriff man auch, daß das in den vergangenen Stunden bewunderte und beneidete rote Kleid eine Provokation bedeuten sollte, eine Kampfansage, eine Beleidigung des freiheitlichen Denkens und der EWG-Aufgeschlossenheit. Anuschka versuchte zu lächeln. Sie fühlte sich umgeben von Eisbergen. »Isch nix kennen anderes. Isch erzogen so bin. Isch erst vier Tagge in Germanja.«
Freifrau von Plessneck atmete hörbar kurz und schnell, als habe sie eine Pneumonie. Wieder sah sie sich empört um. Germanja … ein echtes Russenweib, weiter nichts. Höllische Erinnerungen wuchsen in ihr auf und wurden zur Lawine. Ihre Flucht aus Ostpreußen … die sowjetischen Horden, die mordend, brennend und schändend von allen Seiten in die Dörfer und über die Frauen herfielen, über die Schwestern des Klosters, die man nackt an die Kirchentüren nagelte, nachdem man sie bis zur Bewußtlosigkeit vergewaltigt hatte … der Pfarrer, dem man sein Barett mit fünfzölligen Nägeln auf der Schädeldecke festnagelte … die Zöglinge der Klosterschule, 14- bis 18jährige Mädchen, die man über die Kirchenstühle schnallte und schändete … die Panzer, die mitten hinein in die flüchtenden Trecks fuhren und alles niederwalzten, und die mongolischen Reiter, die durch die Wälder streiften und Männer und Frauen aufhängten, nachdem sie sie gefoltert hatten. »Gibb Urr!« hatten sie geschrien, und wer die Uhr nicht sofort vom Handgelenk riß, dem wurde die Hand abgehackt … Und jetzt saß hier solch ein Russenweib, in einem roten Kleid, sagte Germanja und gestand, Kommunistin zu sein.
Freifrau von Plessneck sprang plötzlich auf. »Ich verachte Sie!« rief sie mit hochrotem Gesicht. Die anderen Damen folgten ihrem mustergültigen Beispiel. Sie erhoben sich wie auf Kommando. Seide und Tüll raschelten, Perlen und Brillanten glitzerten. »Ihr Volk hat sich uns gegenüber benommen wie die Hunnen!«
»Isch nicht«, sagte Anuschka leise und blieb sitzen.
»Aber vielleicht Ihr Vater! Ihre Brüder!
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