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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und benutzte nicht die Koseform Tinja.
    Zögernd ergriff Inken die dargebotene Hand, es war kein Druck, als sich die Finger berührten, und sie zog sie auch sofort wieder zurück, als habe sie etwas Heißes oder widerlich Glitschiges berührt. So faßt man einen Frosch an, dachte Frau Dr. Faßler, die am nächsten stand und die Gruppe in der Tür zur Halle beobachtete wie ein Ringrichter.
    »Hat er von mir gesprochen?« fragte Inken mit mühsam fester Stimme. Anuschka nickte. Ihre langen schwarzen Haare fielen in einigen Strähnen über das Gesicht. Aber es sah nicht verwildert aus, es paßte zu ihr, ja, es mußte so sein. Diese Frau kann sich alles leisten, dachte Inken und spürte, wie ihr Herz zuckte. Und wenn sie in Lumpen auf einem Esel reitet – man wird stehenbleiben und sie bewundern.
    Reeder Holgerson kam aus der Diele.
    »Sdrafsstwui, Milaja«, sagte er galant, beugte sich über Anuschkas Hand und küßte sie.
    Sofort fiel Anuschka mit einem Schwall russischer Worte über den alten Herrn her. Sie hängte sich bei ihm ein, fragte ihn, ob er Russisch spreche, und freute sich wie ein Kind, in ihrer Muttersprache reden zu können.
    Holgerson schüttelte lächelnd den Kopf. »Guten Tag, meine Liebe … das sind die einzigen russischen Worte, die ich noch kenne. Ich habe sie oft als ganz junger Fähnrich im Ersten Weltkrieg zu einem schönen Mädchen in Byalistok gesagt.« Er sah ein wenig wehmütig vor sich hin.
    »Davon hast du mir nie etwas erzählt, Paps«, staunte Inken. »Sieh mal einer an.«
    »Ich hatte das alles tatsächlich längst vergessen. Es fiel mir erst wieder ein, als ich unsere reizende Gastgeberin sah.«
    Anuschka hatte nicht alles verstanden. Martin übersetzte ihr die Jugenderinnerungen des alten Herrn. Sie lachte. Lauter, als es in der großen Gesellschaft schicklich war.
    Aber sie steckte damit die beiden Männer an. Und auch Inken, die plötzlich erstaunt feststellte, daß sie sich wieder freuen konnte.
    Das war die erste Sensation des Abends. Jedermann hatte erwartet, daß der stolze Reeder das Mädchen aus der sibirischen Wildnis übersehen, wenn nicht gar bewußt demütigen würde.
    »Natürlich«, sagte Freifrau von Plessneck pikiert zu Frau Senator Pottbeck . »Ein Mann. Eine schöne Fratze. Ein halbwegs geschwungener Körper. Und schon liegen sie herum wie die Hypnotisierten. Aber das kann ich Ihnen sagen, meine Liebe – dieses Taigamädchen kann ich unmöglich zu meinen Soireen einladen. Der arme Abels dauert mich. Er wird isoliert werden.«
    Anuschka war so klug, an diesem Abend Tinja nicht für sich zu beanspruchen. Sie verstand, warum er sich ausschließlich um Inken Holgerson kümmerte, warum er mit ihr lachte, ihr am kalten Büfett die Teller füllte und später mit ihr im Wintergarten saß, Hand in Hand, als seien sie das Liebespaar des Abends. Die Gesellschaft nahm es auch zur Kenntnis, aber mit anderen Gefühlen. Bewußt oft promenierte man am Wintergarten vorbei, warf einen Blick auf Abels und Inken, die unter zwei Fächerpalmen saßen, grüßte, lächelte breit, gab sich sehr wissend und konziliant. Man wird doch nicht etwa … dachte man und steckte die Köpfe zusammen. So etwas gibt es. Ein Dreiecksverhältnis. Vielleicht ist das in Rußland erlaubt … aber hier in Bremen? Auf keinen Fall wird es der alte Holgerson dulden. Früher, im Kaiserreich, da wurde um solche Dinge duelliert. Ja, das waren noch Zeiten. Da galten Mannesehre und Frauentreue – aber heute? Holt sich einer aus dem sibirischen Urwald eine Halbasiatin und wagt es, sie in das festgefügte Bürgertum einzuführen, und gleichzeitig demonstriert er den Wert einer alten Liebe. O Himmel, welche Zeiten!
    Anuschka spürte noch nichts von der Welle des Mißtrauens und der Sensationsgier, die um sie herum wogte. Sie ließ Inken und Tinja im Wintergarten allein, weil sie sah, wie fröhlich Martin und das Mädchen waren, wie Inken begann, für ein paar Stunden ihr grausames Schicksal zu vergessen. Das ist schön, dachte Anuschka. Ich habe Mitleid mit ihr wie mit meiner eigenen Schwester. Es wäre anders, wenn ich nicht wüßte, wie sehr mich Tinja liebt.
    Sie erinnerte sich an die Verhaltensregeln, die ihr Martin vor der Party gegeben hatte. »Nimm dir die Damen vor«, hatte er gesagt. »Überfahre sie mit deinem Charme. Mach sie sprachlos …«
    Anuschka straffte sich und kam in den Salon zurück. Diener Alfons stand wartend an der Tür. Die Köpfe der Damen fuhren herum, als Anuschka eintrat. Frau Dr. Faßler

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